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Dafür peitschten ihm Äste und nasses Blattwerk ins Gesicht und zerrten an seinen Kleidern.

Mogens blieb stehen, sah sich in der nahezu vollkommenen Dunkelheit hilflos um und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Seine Aussichten, Cleopatra einzufangen, waren praktisch gleich Null, aber er hatte sich immerhin davon überzeugt, dass die Katze unversehrt war und sich kein schlimmeres Vergehen zuschulden kommen ließ, als ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen. Sollte sie es tun, so lange sie es konnte. Er jedenfalls sollte jetzt besser zurückgehen, bevor ihm am Ende noch ein Missgeschick zustieß, das womöglich schlimmer war als der Verlust eines Schuhs.

Gerade, als er so weit war, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen, hörte er ein Rascheln irgendwo links von sich, gefolgt von einem wütenden Fauchen und dem Geräusch brechender Zweige. Dann wieder ein Fauchen, das diesmal eindeutig ängstlich klang.

»Cleopatra?«, rief er.

Das Fauchen und die Geräusche splitternder Äste und zerbrechender Zweige hielten an, und Mogens machte einen nun hastigen Schritt in die entsprechende Richtung. Wie es sich anhörte, war Cleopatra auf einen eindeutig größeren Gegner gestoßen als auf eine Maus, und immerhin war sie über Jahre hinweg nahezu das einzige lebende Geschöpf gewesen, das ihm so etwas wie Freundschaft entgegengebracht hatte. Mogens war es sich allein deshalb schuldig, ihr beizustehen.

Aus den Geräuschen war mittlerweile eindeutig der Lärm eines Kampfes geworden. Cleopatras Fauchen steigerte sich zu einem Kreischen und Spucken, und dazu kamen helle, reißende Laute; Cleopatras Krallen schienen eindeutig etwas gefunden zu haben, das zu zerreißen sich lohnte. Aber etwas an diesen Geräuschen sagte Mogens auch, dass der Kampf nicht einseitig war; da war noch mehr als Cleopatras Fauchen und das Geräusch ihrer Krallen, die auf Widerstand trafen. Mogens glaubte etwas wie ein Knurren zu hören, ein Geräusch, so tief und vibrierend, dass er es mehr spürte, als dass seine Ohren es wahrnahmen, und das von etwas ungemein Großem und Böswilligen zu stammen schien.

Mogens hielt instinktiv einen Moment inne, schob seine Bedenken dann aber beiseite und versuchte im Gegenteil, schneller zu gehen. Cleopatra war ganz offensichtlich auf einen gleichwertigen Gegner gestoßen, vielleicht sogar auf ein Wesen, das seinerseits sie als willkommene Beute betrachtete, möglicherweise einen Dachs oder einen Berglöwen, ein Geschöpf also, das selbst einem Menschen unter bestimmten Umständen gefährlich werden konnte. Mogens vertraute jedoch darauf, dass auch ein solches Geschöpf seinen normalen Instinkten folgen und beim Anblick eines Menschen die Flucht ergreifen würde. Das Fauchen und Kreischen steigerte sich noch einmal, und dann hörte Mogens einen schrecklichen, reißenden Laut, und dann nichts mehr.

Er blieb stehen und sah sich mit hektischen, wilden Blicken um. Dunkelheit umgab ihn wie eine kompakte Mauer, die aus allen Richtungen zugleich auf ihn einstürmte, und in deren Schutz noch etwas anderes herankroch, etwas Uraltes mit Krallen und schnappenden Mündern und schrecklichen, lichtlosen Augen. Sein Herz hämmerte so laut, dass es jedes andere Geräusch zu übertönen schien. Etwas kam. Etwas Riesiges, das ihn verderben würde, und dem er nicht mehr entkommen konnte, ganz egal, wie schnell er lief. Der älteste und schlimmste Albtraum, in dem er rennen konnte, so schnell und so lange es nur ging, ohne seinem unsichtbaren Verfolger entkommen zu können, war Wirklichkeit geworden - einem Verfolger zudem, der ihn unweigerlich einholen musste, sobald er auch nur einen einzigen Blick in seine Richtung warf. Vielleicht hatte es einen Grund, dass so viele Menschen diesen ganz besonderen Nachtmahr kannten und fürchteten. Vielleicht war es gar kein Albtraum, sondern die vorweggenommene Erinnerung an etwas, das noch kam, die Begegnung mit den schrecklichen Wesenheiten, die auf der Schwelle zwischen Leben und Tod lauerten und jeden, der sie überschritt, in ihre Verderben bringende Umarmung schlossen.

Nur mit äußerster Willenskraft gelang es Mogens, diese bizarre Vorstellung abzuschütteln und sich wieder auf den Grund seines Hierseins zu besinnen. Die unheimliche Stille hielt noch immer an, und auch wenn Mogens den Gedanken mit aller Macht unterdrückte, so wusste er doch tief in seinem Herzen genau, dass dieses schreckliche Schweigen nur eines bedeuten konnte. »Cleopatra?«

Selbst der Klang seiner eigenen Stimme kam ihm in diesem Moment bedrohlich vor, etwas, das in dieser Umgebung nicht sein durfte. Dennoch rief er noch zweimal den Namen der Katze, ohne dass indes auch nur die mindeste Reaktion erfolgte.

Immerhin hatten sich seine Augen weit genug an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt, um ihn erkennen zu lassen, dass die Dunkelheit nicht vollkommen war. Hier und da fand ein verirrter Lichtstrahl seinen Weg durch das Geäst und brach sich auf einem nassen Blatt oder dem feuchten Boden. Dürre Äste schlossen sich zu einem Käfig aus Schattenfingern rings um ihn, und durch das Geräusch des Windes im Blattwerk über seinem Kopf schimmerte noch etwas anderes wie ein rasselndes schweres Atmen.

Mogens merkte, dass seine Gedanken schon wieder auf Pfade abzugleiten drohten, die nur in den Irrsinn führen konnten, und rief sich mit einer neuerlichen und noch größeren Willensanstrengung zur Ordnung. Er vollendete seine Drehung und strengte die Augen an, um die Dunkelheit irgendwie zu durchdringen, erweckte damit aber nur die Schatten und Umrisse zu neuem, unwillkommenem Leben. Er wollte noch einmal Cleopatras Namen rufen, aber eine innere Stimme hielt ihn zurück. Ganz gleich, wie nachhaltig ihm sein Verstand versicherte, dass es hier rein gar nichts gab, was er zu fürchten hatte - da war noch eine andere Stimme in ihm, und diese Stimme beharrte hartnäckig darauf, dass da vor ihm etwas war, etwas, das nicht hierher gehörte und das die Dunkelheit als Versteck nutzte. Eine von den Kreaturen, die in der Dämmerung lebten.

Mit einer fast schon trotzigen Bewegung ging er weiter. Dürre Äste streiften mit einem Gefühl wie Spinnenbeine über sein Gesicht und das Wispern in den Baumwipfeln nahm zu. Mogens machte einen weiteren Schritt, den Blick aufmerksam zu Boden gerichtet, und nach einem weiteren Moment glaubte er tatsächlich etwas zu erkennen. Einer der Schatten am Boden vor ihm erschien ihm etwas massiger als die übrigen.

Trotz des Optimismus, den er sich selbst mit einigem Erfolg einredete, blieb Mogens in weitaus größerem Abstand stehen, als notwendig gewesen wäre, und ließ sich in die Hocke sinken, bevor er den Arm ausstreckte, um den Umriss zu berühren. Er fühlte warmes, drahtiges Fell. Es war Cleopatra. Aber sie rührte sich nicht.

Spätestens jetzt konnte er sich selbst nicht mehr darüber belügen, dass der Katze etwas Schlimmes zugestoßen sein musste, doch absurderweise war der erste Gedanke, der ihm bei dieser Erkenntnis durch den Kopf ging, die Frage, wie er diese Nachricht Miss Preussler beibringen sollte, und nicht etwa die, ob er sich womöglich selbst in Gefahr befand.

Er zögerte noch einen allerletzten Moment, dann aber ignorierte er die warnende Stimme in seinem Innern endgültig und schloss die Hand um Cleopatras Hinterläufe. Die Katze reagierte auch darauf nicht, sondern ließ sich widerstandslos von Mogens aus dem Gebüsch zerren. Ihr Körper war zwar noch warm, aber so schlaff, dass sich Mogens keiner Illusion mehr hingab, was er erblicken würde, sobald er sie ins Licht gezogen hatte. Sie kam ihm auch leichter vor, als sie sein sollte.

Möglicherweise lag das daran, dass sie keinen Kopf mehr hatte.

Mogens' Atem stockte. Ein so eisiges Entsetzen griff nach seinem Herzen, dass er tatsächlich zu spüren glaubte, wie es zuerst einen, dann noch einen und schließlich noch einen Schlag übersprang und auch dann nur so mühevoll und schwer weiterarbeitete, als hätte sich sein Blut in zähflüssigen Teer verwandelt, den es kaum durch seine Adern zu pumpen imstande war. Von einem Entsetzen gepackt, das auf eine eigenartige Weise fast schlimmer zu sein schien als jenes, das er damals in jener schrecklichen Nacht unter dem Mausoleum empfunden hatte, saß er wie zur Salzsäule erstarrt in der Hocke da und starrte Cleopatras geschundenen Körper an, ohne wirklich zu begreifen, was er da sah. Nicht nur Cleopatras Kopf fehlte, sondern auch die rechte Schulter samt des daran befindlichen Laufs. Die schreckliche Wunde hätte heftig bluten müssen, doch zumindest in dem blassen Sternenlicht, das seinen Weg durch das Blätterdach gefunden hatte, konnte Mogens nur wenige dunkelrote Tropfen erkennen. Mogens registrierte all diese - und noch viel mehr, viel schlimmere - Details mit der kalten Sachlichkeit eines Wissenschaftlers, der gelernt hatte, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie zu werten, aber auf einer anderen, tieferen Ebene seines Bewusstseins empfand er noch immer dasselbe lähmende Entsetzen, das es ihm unmöglich machte, auch nur einen Muskel zu rühren, ja, in diesem Moment auch nur zu atmen.