Und vielleicht rettete ihm dieses Entsetzen das Leben.
Noch während er dasaß und versuchte, die eisige Umklammerung der Furcht zu sprengen, erwachte ein weiterer, massiger Schatten vor ihm zum Leben. Was er für einen Busch oder Strauch gehalten hatte, wurde zu einem struppigen, fuchsohrigen Umriss mit kolossaler Schulterbreite, der sich wie ein mythischer Gigant aus der griechischen Sagenwelt langsam vor und über ihm aufrichtete. Das Knurren erklang erneut, aber diesmal war Mogens sicher, es nicht wirklich zu hören, sondern mit jeder Faser seines Körpers zu spüren. Unheimliche, düsterrote Augen starrten aus mehr als sechs Fuß Höhe auf Mogens herab, und ein Geruch, der eine Mischung aus Blut, Verwesung und noch etwas Anderem, Unangenehmerem war, schlug ihm entgegen. Das Ungeheuer starrte nicht einfach nur in seine Richtung, es sah ihn an, aus Augen, die in der Dunkelheit besser sahen als die eines Menschen im hellen Licht der Sonne, und der ekelhafte Gestank nahm noch zu, als sich das Ding vorbeugte und dabei das Maul öffnete, wobei ein ganzer Wald nadelspitzer Fang- und Reißzähne im Sternenlicht aufblitzte.
Mogens wusste mit unerschütterlicher Gewissheit, dass er nun sterben würde. Die Kreatur, die Cleopatra auf so entsetzliche Weise zugerichtet hatte, hatte auch ihn entdeckt, und es bestand kein Zweifel daran, dass die kleine Katze kaum mehr als ein Appetithappen für einen Koloss wie diesen gewesen sein konnte, so wenig wie Zweifel daran bestand, was als Nächstes geschehen musste. Mogens empfand eine leise Verwirrung über den Umstand, dass er noch immer keine wirkliche Angst hatte, zugleich aber ein absurdes Gefühl von Dankbarkeit, dass es so war. Ergeben schloss er die Augen und wartete auf den Tod.
Er kam nicht. Der reißende Schmerz, auf den er wartete, blieb aus. Das unheimliche Knurren wiederholte sich und nahm für einen Moment noch an Intensität zu, doch das Nächste, was Mogens hörte, war das scharfe Brechen von Zweigen und dann leise, tappende Schritte, die sich entfernten. Als er die Augen wieder öffnete, war der Schatten verschwunden.
Und dann geschah etwas ganz und gar Unglaubliches.
Mogens spürte, wie sich seine Finger öffneten und den toten Leib der Katze fallen ließ. Sein Herz begann zu rasen, und nur eine Sekunde später begann er am ganzen Leib zu zittern, als die Angst, die er bisher vermisst hatte, nun mit doppelter Wucht zuschlug. Kalter Schweiß erschien auf seiner Stirn, nicht allmählich, sondern so jäh wie eine Explosion, und seine Eingeweide zogen sich zu einem Ball aus reinem Schmerz zusammen, sodass er sich wie unter Krämpfen krümmte.
Und dennoch berührte ihn nichts von alledem wirklich. Mogens war zeit seines Lebens nie ein besonders mutiger Mann gewesen; zwar auch kein Feigling, aber gewiss auch niemand, der die Herausforderung suchte oder sich sogar keck in eine gefährliche Situation gestürzt hätte. Nun aber war es, als beträfe die lodernde Furcht, die er in jeder Faser seines Körpers spürte, gar nicht ihn. Mehr noch, als gäbe es da mit einem Mal zwei Mogens VanAndt, die sich unabhängig voneinander denselben Körper teilten: den einen, der sich wimmernd vor Furcht krümmte und nur deshalb nicht in Panik davonrannte, weil ihn dieselbe Panik zugleich auch lähmte, und auch noch einen anderen, vollkommen neuen Mogens, der alle Furcht abgestreift hatte. Jenseits allen Zweifels war er sich der Tatsache bewusst, derselben Kreatur ins Auge geblickt zu haben, die vor neun Jahren Janice verschleppt und sein Leben verheert hatte, aber er fürchtete es nicht mehr. Es war, als hätte ihn die sichere Gewissheit des Todes, die er gerade verspürt hatte, gleichsam eine Grenze überschreiten lassen. Er wusste nun, dass er den Tod nicht mehr zu fürchten brauchte, unbeschadet der Kreaturen, die auf der Schwelle der Wirklichkeit lauerten. Es spielte keine Rolle mehr, ob er lebte oder starb. Niemand brauchte ihn. Niemand würde ihn vermissen. Sein Leben hatte vor neun Jahren geendet, und seither hatte er allenfalls noch existiert. Er würde nicht mehr davonlaufen. Nie mehr.
Er stand auf, trat aus dem Gebüsch hervor und machte sich auf den Weg, um seinem Schicksal entgegenzutreten.
20.
Trotz der Dunkelheit fiel es ihm nicht schwer, der Spur des Geschöpfes zu folgen. Seine Füße hatten tiefe Abdrücke im aufgeweichten Boden hinterlassen, in denen sich Wasser zu sammeln begann, aber Mogens hätte seine Spur wohl auch dann nicht verloren, wäre es nicht so gewesen. Es war weniger die Fährte der Bestie, der er folgte, sondern vielmehr der bloßen Spur ihres Vorhandenseins, die sie zurückgelassen hatte, so als hätte ihre bloße Existenz eine Wunde in die Wirklichkeit gerissen, die nur ganz allmählich wieder verheilte.
Die Fährte bewegte sich ein kurzes Stück in westlicher Richtung vom Lager weg und Mogens' gerade neu gewonnene Entschlossenheit geriet schon wieder ins Wanken, als ihm klar wurde, dass sie in direkter Linie zum Friedhof hin führte. Er war nicht sicher, ob sein Mut reichen würde, der Bestie auch dorthin zu folgen, denn die Friedhofsmauer zu übersteigen hieße nicht nur, dem Ungeheuer gegenüberzutreten, sondern dies auch auf seinem ureigensten Gebiet zu tun, einem Terrain, auf dem nicht nur das Ungeheuer zu Hause war, sondern auch alle Schrecken aus seiner eigenen Vergangenheit. Die Entscheidung blieb ihm jedoch erspart. Unmittelbar vor der Friedhofsmauer, die an dieser Stelle halb niedergebrochen war, schwenkte die Spur scharf nach links, und als Mogens ihr folgte, erreichte er nach wenigen Dutzend Schritten die Straße, die parallel zu der halbhohen Mauer verlief. Die Fährte aus sich langsam mit Wasser füllenden Fußabdrücken endete hier, aber die zweite, unsichtbare Spur der Bestie war nach wie vor da. Sie führte weiter vom Lager fort und folgte der Straße.
Mogens zögerte nun doch. Die an Panik grenzende Angst, die er überwunden hatte, war nicht zurückgekehrt, aber an ihrer Stelle machte sich nun eine ganz andere, rein intellektuell begründete Furcht in ihm breit, nämlich die Frage, ob die Kreatur ihn vielleicht ganz bewusst vom Lager weglockte, um dann über ihn herzufallen. Fast gleichzeitig wurde ihm klar, wie lächerlich dieser Gedanke war. Das Monstrum konnte ihm antun, was immer es wollte - und vor allem wo immer es das wollte. Wäre es sein Tod gewesen, den die Kreatur im Sinn hatte, dann wäre er jetzt schon nicht mehr am Leben.
Aber vielleicht gab es ja Dinge, die schlimmer waren als der Tod...
Mogens verdrängte den Gedanken und ging weiter. Er stellte sich auch ganz bewusst nicht der Frage, was er eigentlich tun würde, wenn es ihm tatsächlich gelang, die groteske Kreatur einzuholen. Er hatte nichts bei sich, was er als Waffe nutzen konnte, ganz zu schweigen davon, dass der bloße Gedanke, die Kreatur anzugreifen, absolut lächerlich war. Dennoch ging er weiter und beschleunigte seine Schritte sogar noch, blieb aber in fast regelmäßigen Abständen stehen, um zu lauschen. Er hörte nichts, aber er konnte nach wie vor spüren, dass das unheimliche Wesen irgendwo dort vor ihm war; nicht einmal besonders weit entfernt. Mogens verspürte ein eisiges Frösteln bei der Vorstellung, es könne vielleicht seinerseits ab und zu stehen bleiben und aus seinen unheimlichen glühenden Augen zu ihm zurückblicken, um sich davon zu überzeugen, dass der Abstand nicht etwa zu groß wurde und Mogens seine Spur verlor. Er ging trotzdem weiter. Er war nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch kehrtmachen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Mogens fühlte sich in der Lage eines Mannes, der leichtsinnigerweise angefangen hatte, einen immer steiler und steiler werdenden Hang hinabzulaufen und nun nicht mehr anhalten konnte.