Jetzt, eingehüllt in Dunkelheit und Kälte, die beide auf unterschiedliche Weise, aber gleich heftig an seinen Nerven zerrten, kam ihm der Weg ungleich länger vor als an dem Tag, als Tom mit dem Wagen hier entlanggefahren war. Sein Zeitempfinden war hoffnungslos erloschen, aber er hatte das Gefühl, Stunden an der unregelmäßig ausgebrochenen Mauer entlangzumarschieren. Aber auch realistisch betrachtet legte er eine halbe Meile zurück, wenn nicht mehr. Er hatte nicht gewusst, dass der Friedhof so groß war; eigentlich viel zu groß für eine so kleine Stadt wie die, zu der er gehörte.
Mogens blieb stehen, als er ein Geräusch hörte. Es war nicht das Knurren der Bestie, sondern ein anderer Laut, den er nicht zu identifizieren vermochte, der aber irgendetwas in ihm berührte und ihn beunruhigte. Mit aller Konzentration, die er aufzubringen imstande war, versuchte er die Dunkelheit vor sich mit Blicken zu durchdringen. Vor ihm stieg der schmale asphaltierte Weg jäh an und ging dann in die kaum nennenswert breitere Hauptstraße über, beschrieb auf halber Strecke jedoch einen scharfen Knick, der in Mogens ungute Erinnerungen wachrief, war es doch genau die Stelle, an der ihm schon auf der Herfahrt der Angstschweiß auf die Stirn getreten war.
Erst dann wurde ihm klar, dass es nicht nur diese Erinnerung war, die ihn mit solchem Unbehagen erfüllte. Dies war die Stelle, von der Graves vorhin erzählt hatte. Der Ort, an dem der Wagen abgestürzt war.
Mogens zögerte nun aus ganz anderen Gründen, weiterzugehen. Er hatte nie zu jenen Menschen gehört, die voller morbider Faszination zum Ort eines Unglücks eilten, oder sich beispielsweise ein brennendes Haus ansahen, und diesen speziellen Ort wollte er ganz gewiss nicht sehen. Denn auch wenn es nicht den mindesten Anlass dazu gab, fühlte er sich doch auf sonderbare Weise mitverantwortlich für das Schreckliche, das Hyams und den beiden anderen zugestoßen war. Ja, er fragte sich sogar, ob es nicht in Wahrheit dieses furchtbare Geschehen war, das ihn hergelockt hatte, und ob seine Fantasie den Anblick eines fuchsohrigen Ungeheuers mit glühenden Augen vielleicht nur erschaffen hatte, um ihn hierher zu locken. Allein die Vorstellung, dass ein ihm bisher selbst unbekannter Teil seines Bewusstseins zu einer solchen Morbidität imstande sein könnte, war so erschreckend, dass er auf der Stelle den Rückweg angetreten hätte, hätte er nicht in diesem Moment erneut jenen sonderbar klagenden Laut gehört, und diesmal so deutlich, dass er sicher war, ihn auch tatsächlich gehört zu haben, und ihn sich nicht nur einzubilden. Es war ein Klagen, etwas wie das Seufzen des Windes, nur qualvoller. Und es war eindeutig eine menschliche Stimme.
Mogens erschauerte erneut, und fast gegen seinen Willen hörte er noch einmal Miss Preusslers Stimme. Und wenn die arme Frau vielleicht doch noch lebt und nun schwer verletzt dort draußen liegt? Aber das konnte nicht sein. So grausam durfte das Schicksal nicht sein.
Wie um ihn zu verhöhnen, drehte sich der Wind, und das leise Wehklagen drang nun deutlicher an sein Ohr. Vielleicht war es nur das, was seine Fantasie dem Laut hinzufügte, doch für Mogens wurde er nun eindeutig zum herzzerreißenden Flehen einer Frau, und nun gab es kein Zurück mehr. Er ging weiter, näherte sich vorsichtig der Stelle, an der die Straße in einen jähen Abgrund überging und beugte sich mit klopfendem Herzen vor.
Wider alle Vernunft hatte er sich bisher immer noch an die verzweifelte Hoffnung geklammert, doch am falschen Ort zu sein, aber der Wagen war da, trotz des schwachen Lichts und der Entfernung deutlich zu erkennen, wie er zertrümmert und ausgebrannt unter ihm auf der Seite lag. Die Böschung war nicht einmal so tief, wie er sie in Erinnerung gehabt zu haben glaubte - vielleicht fünfzig, sechzig Fuß, allerhöchstens -, doch dafür um etliches steiler, und mit zahllosen Felsbrocken und dürrem Gestrüpp übersät. Vermutlich waren es diese Felsbrocken gewesen, überlegte Mogens, die den Sturz zu einer solchen Katastrophe hatten werden lassen. Überall im nassen Gras schimmerten Glassplitter und Bruchstücke von zerfetztem Metall und trotz des reinigenden Regens lag noch immer ein scharfer Brandgeruch in der Luft.
Wäre der Wagen nur die Böschung hinabgeschlittert, wäre er möglicherweise sogar auf den Rädern geblieben, oder hätte sich allerhöchstem am Ende seiner Rutschpartie behäbig überschlagen, was, wie Mogens wusste, spektakulärer und vor allem gefährlicher aussah, als es im Allgemeinen war. Die tonnenschweren scharfkantigen Felsbrocken aber hatten aus dem fast harmlosen Abrutschen einen tödlichen Spießrutenlauf gemacht, indem sie das Automobil wie mit Riesenfäusten zertrümmerten, bis es am Ende zerbrach und in Flammen aufging. Mogens' Herz begann abermals schneller zu schlagen, während sein Blick über den abschüssigen Hang tastete und er sich fragte, wie um alles in der Welt er dort hinunterkommen sollte, ohne sich den Hals zu brechen.
Aber das musste er. Das Wimmern und Wehklagen war nicht mehr zu hören, doch das machte es beinahe noch schlimmer. Selbst wenn man Hyams' Leichnam niemals fand, ja, selbst wenn man ihn fand und sich herausstellen sollte, dass sie zu diesem Zeitpunkt längst tot gewesen war, würden ihn die klagenden Laute doch bis ans Ende seines Lebens verfolgen, wenn er jetzt nicht dort hinunterging.
Er versuchte es. Graves' Warnung, wonach dieses Gelände schon bei Tageslicht und gutem Wetter nicht ungefährlich sei, klang ihm noch deutlich im Ohr, und er begriff schon nach den ersten Schritten, dass sie bitter ernst gemeint gewesen war. Der Hang war noch abschüssiger, als er ausgesehen hatte, und mit dichtem Gras bewachsen, das die Nässe so glatt wie Schmierseife gemacht hatte. Mogens schlitterte die Böschung mehr hinab, als er ging, und mehr als einmal drohte er zu fallen und fand nur im letzten Moment an einem Ast oder einem Felsbrocken Halt. Dazu kam, dass der sich überschlagende Wagen nicht nur tiefe Furchen in die Grasnarbe gerissen hatte, in denen matschig aufgeweichter Boden zum Vorschein kam, der seinen Füßen noch weniger Halt bot, sondern auch zahllose mehr oder wenig spitze Trümmerstücke aus dem Erdreich ragten. Es kam Mogens selbst fast wie ein kleines Wunder vor, dass er das Ende des Abhangs erreichte, ohne zu stürzen oder sich an den scharfkantigen Trümmern und Glasscherben auf andere Weise verletzt zu haben. Mit der Frage, wie er diese Böschung wieder hinaufkommen sollte, beschäftigte er sich vorsichtshalber noch gar nicht.
Das Wrack des ausgebrannten Wagens lag jetzt nur noch wenige Schritte vor ihm. Selbst bei der herrschenden Dunkelheit konnte Mogens erkennen, wie schrecklich es zerstört war. Das Wrack war kaum noch als Automobil zu erkennen, und was der Sturz nicht zertrümmert, zerbrochen, verbogen und zermalmt hatte, das hatte das nachfolgende Feuer verheert. Obwohl der Brand Stunden zurücklag, strahlte der ausgeglühte Metallklumpen noch immer eine spürbare Hitze aus. Selbst der Boden, über den er ging, war trocken und warm.
Mogens riss seinen Blick mühsam vom Wrack des Fords los und trat einen Schritt zur Seite, um sich aus angestrengt zusammengekniffenen Augen umzusehen. Jetzt wäre er froh gewesen, das herzzerreißende Wehklagen noch einmal zu hören, doch mittlerweile war selbst das Wispern des Windes verstummt, und es war fast unheimlich still.