»Hyams?«, rief er.
Natürlich bekam er keine Antwort. Er machte zwei zögernde Schritte, blieb stehen und ging abermals weiter, wobei er instinktiv einen deutlich größeren Abstand zum Wagen hielt, als es selbst angesichts der davon ausgehenden Hitze notwendig gewesen wäre. Das Fahrzeug war zum Grab zweier Menschen geworden, vielleicht sogar von dreien, und seine bloße Nähe machte ihm Angst. Er hätte nicht den Mut gehabt, den Friedhof zu betreten, aber das hatte ihm nichts genutzt, denn der Friedhof war ihm nachgekommen.
Sein Fuß stieß gegen etwas, das hörbar raschelte. Mogens blieb stehen und erkannte einen verschwommenen länglichen Umriss, der mit einer schwarzen Plane abgedeckt war. Behutsam ließ er sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, um das Tuch beiseite zu schlagen.
Im nächsten Moment prallte er mit einer so entsetzten Bewegung zurück, dass er das Gleichgewicht verlor und rücklings zu Boden fiel. Sein Hinterkopf schrammte an einem Stein entlang, und der dumpfe Schmerz war so heftig, dass ihm für einen Moment übel wurde. Er lief nicht Gefahr, das Bewusstsein zu verlieren, aber für endlose Sekunden drehte sich die Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern heftig um sich selbst, dass er es nicht wagte, auch nur die Augen zu öffnen, aus Angst, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Und noch länger dauerte es, bis er die Kraft fand, sich aufzurappeln und erneut dem schrecklichen Anblick zu stellen, den die schwarzen Segeltuchplane bisher barmherzig verborgen hatte.
Es waren zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper. Mogens nahm an, dass es sich um Mercer und McClure handelte, aber das konnte er nur noch raten, und er hätte auch nicht sagen können, wer nun wer war. Die Flammen hatten ihnen die Kleider vom Leib gebrannt, Haare und Augenbrauen verzehrt und jedwedes Vertraute aus ihren Zügen getilgt. Sie schienen deutlich kleiner geworden zu sein, als hätte die ungeheure Hitze, die ihre Haut geschwärzt und ihre Glieder im Tode sich hatte zusammenziehen lassen, sie gleichsam schrumpfen lassen. Nicht einmal mehr der Unterschied zwischen dem fast asketischen McClure und Mercers beleibter Erscheinung war noch wirklich zu erkennen, zumindest nicht auf den ersten Blick, als hätte das Feuer sein Fett einfach wegschmelzen lassen wie Butter in einer zu heißen Pfanne.
Obwohl dieser Anblick vielleicht das Schrecklichste war, das Mogens jemals gesehen hatte, zwang er seinen rebellierenden Magen gewaltsam zur Ruhe und hielt ihm so lange Stand, wie er nur konnte, und sei es nur, um ihm auf diese Weise wenigstens den schlimmsten Schrecken zu nehmen. Ein Teil seines Verstandes reagierte empört auf die Erkenntnis, dass Wilson die Leichen der beiden Wissenschaftler einfach hier liegen gelassen hatte, als wären auch sie nichts mehr als zwei weitere Trümmerstücke, aber zugleich erinnerte er sich auch zu gut daran, wie schwer es ihm gefallen war, den schlüpfrigen Abhang herunterzusteigen. Bei der Heftigkeit des Unwetters, das am Nachmittag hier getobt hatte, musste es vollkommen unmöglich gewesen sein, die beiden Toten den Hang hinaufzuschaffen. Wilson oder seine Leute hatten sie hier hingelegt und zugedeckt, um sie am nächsten Tag abzutransportieren, ohne dabei Leib und Leben zu riskieren.
Aber es waren nur zwei Leichen. Wo war Hyams?
Bevor er sich erhob, zog er die Plane wieder an Ort und Stelle, dann drehte er sich langsam einmal um sich selbst und versuchte dem Durcheinander aus Schatten und verschwommenen grauen Umrissen irgendeinen Sinn abzugewinnen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es vorhin hier ausgesehen haben mochte, nicht nur bei einer Dunkelheit, die fast ebenso tief gewesen war wie jetzt, sondern auch bei strömendem Regen und inmitten eines heulenden Gewittersturms. Vermutlich hatten Wilson und seine Leute die berühmte Hand vor Augen nicht mehr gesehen. Aber Mogens hielt Wilson - obwohl er ihn kaum kannte - für einen sehr gewissenhaften Mann, der zumindest die nähere Umgebung des Wagens sorgsam abgesucht haben würde - auch wenn er gar nicht hatte wissen können, dass noch eine dritte Person im Wagen gesessen hatte. Er konnte es sich also sparen, die unmittelbare Nähe in Augenschein zu nehmen.
Aber genau das war das Problem. Der Wagen war auf einem relativ ebenen Flecken zum Liegen gekommen, der von Trümmerstücken und einem Gewirr scharfkantiger Felsen begrenzt wurde. Einige davon waren kaum größer als Hundehütten, andere halb so hoch wie ein Haus, ausnahmslos aber waren sie scharfkantig und gefährlich. Selbst wenn Hyams aus dem Wagen geschleudert worden war, bevor dieser in Flammen aufging, hatte sie keine Überlebenschance gehabt, wenn sie in diese Felsen gestürzt war.
Dennoch ließ sich Mogens nicht davon abhalten, zwischen den kreuz und quer daliegenden Findlingen umherzuklettern und den Boden abzusuchen. Auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass niemand einen Sturz zwischen diese Felsen überleben konnte, so war er doch zugleich sicherer denn je, sich das Stöhnen und Flehen nicht nur eingebildet zu haben.
Wie weit mochte ein Körper fliegen, der aus einem sich überschlagenen Automobil geschleudert wurde? Sicher nicht allzu weit, vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig Fuß. Wenn Hyams hier irgendwo war, dann vermutlich in unmittelbarer Nähe. Ansonsten hätte er wohl auch kaum noch oben auf der Straße ihre vermeintlichen Hilferufe hören können.
Mogens suchte die Umgebung in gut dreißig Schritten Umkreis ab, und er fand zwar Hyams nicht, aber er stieß auf etwas anderes. Fast in gerader Linie hinter dem ausgebrannten Wagen und kaum zehn Schritte entfernt türmten sich die Felsen zu einer Art steinernem Baldachin, der den Regen in einem dreieckigen Bereich abgehalten hatte. Dennoch gab es einen dunklen Fleck auf dem Boden, wo keiner hätte sein sollen. Mogens beugte sich vor, streckte die Hand aus und fühlte etwas Feuchtes und Warmes. Als er den Arm wieder hob, sahen seine Handfläche und Finger im Sternenlicht scheinbar schwarz aus, aber Mogens wusste, dass sie in Wirklichkeit rot waren. Es hätte des charakteristischen Geruchs nicht mehr bedurft, um ihm zu sagen, dass der Boden voller Blut war. Und es war warmes Blut. Hyams lebte also noch. Mehr noch: Obschon der große Blutfleck, vor dem er kniete, bewies, wie schwer verletzt sie sein musste, war sie ganz offensichtlich noch in der Lage gewesen, sich zu bewegen. Unglückseligerweise hatte der Regen nur einen kleinen Bereich des Bodens unmittelbar vor ihm verschont, alles andere hatte sich in braunen Morast verwandelt, der kaum zähflüssiger war als wirklicher Sumpf, und in dem keine Spur länger als wenige Augenblicke Bestand hatte. Es war nicht zu erkennen, in welche Richtung sich Hyams davongeschleppt hatte.
Mogens überlegte, wie ein Mensch mit so schweren Verletzungen wohl reagieren mochte. Sicherlich nicht mehr vernünftig. Eher schon wie ein waidwundes Tier, das sich irgendwo einen geschützten dunklen Ort suchte, um zu sterben. Andererseits wusste er auch, dass gerade so schwer verwundete Menschen manchmal zu unglaublichen Leistungen imstande waren. Kurz: Dies war ein Rätsel, das er kaum durch bloßes Überlegen würde lösen können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf gut Glück weiterzusuchen und zu hoffen, dass er Hyams fand, bevor es zu spät war.
In regelmäßigen Abständen den Namen der Ägyptologin rufend, begann Mogens den Fundort in größer werdenden Kreisen abzusuchen. Er bekam weder eine Antwort, noch stieß er auf weitere Blutspuren oder gar Hyams selbst. Mogens sah in jede Felsspalte, tastete in jeden Schatten und lugte hinter Steine, die nicht einmal annähernd groß genug waren, dass sich ein Mensch dahinter verbergen konnte, aber schließlich gab er es auf. So schwer es ihm fiel, es zuzugeben: Es war sinnlos, die Suche auf diese Weise fortzusetzen. Auch wenn er mehr denn je das Gefühl hatte, Hyams feige im Stich zu lassen, so gab es doch nur noch eines, was er für sie tun konnte: Er würde ins Lager zurückgehen und Graves und Tom alarmieren. In wenigen Stunden wurde es hell, und dann konnte Tom mit dem Wagen in die Stadt fahren und Wilson und so viele weitere Männer wie nur möglich holen, sodass sie die Suche bei Tageslicht und unter besseren Bedingungen fortsetzen konnten.