»Andere Dinge?«, fragte Miss Preussler auch prompt.
»Wie es hier weitergeht«, sprang Graves ein. Er deutete auf Mogens. »Nachdem die unglückselige Miss Hyams und die beiden anderen uns verlassen haben, müssen wir die ganze Arbeit allein erledigen. Das muss gut überlegt werden und vor allem sorgsam geplant und organisiert. Das verstehen Sie doch sicher.«
Miss Preussler blinzelte. »Sie haben es ihm noch nicht gesagt, Professor?«
»Ich... habe mich anders entschieden, Miss Preussler«, antwortete Mogens zögernd. »Ich bleibe hier. Wenigstens noch für einige Tage.«
»Das freut mich«, antwortete Miss Preussler. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon ein ganz schlechtes Gewissen Doktor Graves gegenüber. Ich hatte Angst, Sie würden nur meinetwegen abreisen wollen.«
»Das hat mit Ihnen nicht das Geringste zu tun«, versicherte Mogens. »Ich hatte private Gründe. Aber ich habe mich mit Doktor Graves ausgesprochen, und er hat mich überzeugt. Ich kann ihn nicht auch noch im Stich lassen, nun, wo die anderen fort sind.«
»Hat man die arme Miss Hyams gefunden?«, fragte Miss Preussler.
»Bisher nicht«, antwortete Mogens.
»Aber Sheriff Wilson ist ein fähiger Mann«, fügte Graves hinzu. »Wenn sie noch am Leben ist, dann wird er sie finden.«
»Ich dachte, Sie mögen ihn nicht.«
»Sheriff Wilson und ich sind keine Freunde, das ist richtig«, antwortete Graves. »Doch das bedeutet nicht, dass ich prinzipiell an seinen Fähigkeiten zweifle. Wilson wird alles in seiner Macht Stehende tun.« Er atmete hörbar ein. »Aber nun müssen wir gehen. Tom kann Sie zu einem späteren Zeitpunkt gern weiter herumführen, aber im Augenblick ist unsere Zeit ein wenig knapp, fürchte ich.«
Miss Preussler war ein bisschen beleidigt, aber sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Sicher«, sagte sie verschnupft.
»Tom wird Sie zurückbringen«, fuhr Graves fort. »Professor VanAndt und ich haben hier noch ein paar Dinge zu erledigen. Aber wir kommen nach, so schnell es uns möglich ist.«
»Sicher«, antwortete Miss Preussler kühl. »Thomas?«
Tom beeilte sich, Miss Preussler nach draußen zu führen, und Graves sah ihnen wortlos nach, bis sie verschwunden waren. Dann drehte er sich kopfschüttelnd wieder zu Mogens um. »Ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe, Mogens. Du hast dich nicht in ein Loch verkrochen. Du warst in der Hölle.«
»Miss Preussler hat ihre Qualitäten«, sagte Mogens.
»Man muss nur lange genug danach suchen, wie?«, fragte Graves höhnisch.
Mogens ignorierte ihn. »Wir müssen sie von hier fortschaffen«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass ihr etwas geschieht.«
»Was liegt dir an dieser Frau?«, fragte Graves verwirrt. »Wie ich das sehe, bist du ihr nichts schuldig.«
»Das mag sein«, antwortete Mogens. »Trotzdem würde ich es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustieße.«
Wieder schwieg Graves eine ganze Weile, während der er Mogens so nachdenklich ansah, dass sich dieser verwirrt fragte, was er eigentlich gerade gesagt hatte. Er schüttelte den Gedanken mit einer merklichen Anstrengung ab. »Ging es dir nun darum, Miss Preussler los zu werden, oder wolltest du tatsächlich etwas mit mir besprechen?«
Statt ihm zu antworten, trat Graves in die Wandnische und öffnete die Geheimtür, indem er den Kopf der Horusstatue umdrehte. Die Steinplatte bewegte sich knirschend zur Seite, und Mogens wartete darauf, dass sich aus dem Gang, der dahinter zum Vorschein kam, Schatten ergossen wie eine Flut klumpig geronnener Dunkelheit. Stattdessen drang aus dem schmalen Durchgang hellgelbes, warmes Licht.
»Ich habe Tom gebeten, noch ein paar zusätzliche Lampen zu installieren«, sagte Graves, als er Mogens' Erstaunen bemerkte.
»Wozu?«, fragte Mogens.
»Ich hatte den Eindruck, dass dir das Dunkel nicht behagt«, antwortete Graves. »Und es ist auch weniger gefährlich. Tom hat den Gang zuverlässig abgestützt, keine Sorge, aber es sind doch einige Trümmerstücke von der Decke gefallen. Ich möchte nicht, dass du zu Schaden kommst.«
»Diese Gefahr besteht wohl kaum«, antwortete Mogens. Er sah Graves ärgerlich an. »Ich werde nicht dort hineingehen.«
»Aber ich dachte, wir wären uns einig«, sagte Graves überrascht.
»Dass ich dir helfe, ja«, antwortete Mogens. Er machte eine trotzige Kopfbewegung in den Gang. »Aber nicht dabei.«
Die Verwirrung in Graves' Gesicht nahm noch zu. »Aber du...« Er unterbrach sich, schüttelte sacht den Kopf und nickte gleich darauf. »Oh, jetzt verstehe ich. Aber das eine geht nicht ohne das andere, fürchte ich. Anscheinend habe ich mich immer noch nicht klar genug ausgedrückt. Ich glaube, wir sind der Lösung ganz nahe. Wir brauchen Beweise, Mogens.« Er wies mit der Hand in den offen stehenden Geheimgang. »Und sie sind dort drinnen. Aber du bist der Einzige, der mir helfen kann, sie zu finden.«
»Nein«, sagte Mogens.
Graves' Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. Aber er beherrschte sich, auch wenn es ihn sichtliche Anstrengung kostete. »Ich hoffe, du überdenkst diesen Entschluss noch einmal«, sagte er steif.
»Kaum«, antwortete Mogens. »Und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn wir gehen könnten. Ich würde gerne diese albernen Kleider ablegen.«
24.
Bis zu diesem Tage hatte sich der Speiseplan des Lagers auf ein ausgiebiges Frühstück und ein noch ausgiebigeres Abendessen beschränkt, die Mogens und seine Kollegen jeder für sich in seiner jeweiligen Unterkunft eingenommen hatten; zum einen, wie Mogens angenommen hatte, um Zeit zu sparen - der Hin- und Rückweg in den unterirdischen Tempel nahm jedes Mal nahezu eine Viertelstunde in Anspruch, und Tom hielt sich eisern an den Zeitplan, den Graves für den Betrieb des Generators aufgestellt hatte -, aber hauptsächlich wohl, weil es selbst Toms an Zauberei grenzende Fähigkeiten überfordert hätte, neben den unzähligen Arbeiten, die er schon zu verrichten hatte, nicht nur auch noch eine dritte warme Mahlzeit täglich zuzubereiten, sondern sie auch in fünf getrennten Unterkünften aufzutragen.
Das Frühstück hatte an diesem Tag für Mogens jedoch lediglich aus zwei Tassen des lauwarmen bitteren Gebräus bestanden, von dem Wilson behauptet hatte, es handele sich um Kaffee, und so saß Mogens gegen Mittag mit leise knurrendem Magen und entsprechend gesunkener Laune über seinen Büchern, als von draußen ein nervöses metallisches Klingeln hereindrang; fast wie ein Gong, nur blecherner.
Mogens sah von seiner Lektüre auf und blickte zur Tür, ohne dem Laut indes einen Sinn abgewinnen zu können. Seine Verärgerung galt nicht allein der Störung seiner Konzentration, sondern viel mehr sich selbst. Er saß jetzt seit guten zwei, wenn nicht mehr Stunden über den Büchern, die Graves aus der Universitätsbibliothek von Arkham mitgebracht hatte, und versuchte vergebens, den Buchstaben und Zeichnungen irgendeinen Sinn abzugewinnen.
Natürlich verstand er die Worte. Er vermochte sie zu Sätzen aneinander zu reihen und deren Sinn zu erfassen, aber das viel tiefer gehende, fast mystische Verständnis für die in den vermeintlich harmlosen Worten verborgene, unheimliche Botschaft wollte sich nicht mehr einstellen. Das düstere Geheimnis, das sich ihm zuvor beim Lesen der uralten Schriften erschlossen hatte, war verschwunden. Das Buch hatte aufgehört, mit ihm zu reden.
Vielleicht hatte er auch einfach aufgehört, ihm zuzuhören.
Mogens war im Zweifel mit sich selbst. Mit jedem Moment, der verging, war er sicherer, dass es ein Fehler gewesen war, auf Graves zu hören und zu bleiben. Graves' Argumente waren zwingend; es gab nichts, was er dagegen sagen konnte, nichts was dafür sprach, nicht hier zu bleiben und das Rätsel jener unheimlichen Kreaturen zu lösen, die Janice getötet und sein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatten. Und doch: Tief drinnen in ihm war eine leise, drängende Stimme, die ihm beharrlich zuflüsterte, dass er hier weg musste, dass Graves ihm trotz allem noch immer nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte und dass es da noch ein weiteres, viel gefährlicheres Geheimnis gab. Und dass er in Gefahr war, einer schrecklichen Gefahr, die mit jedem Moment größer wurde, wenn er blieb. Es war nicht nur ein Gefühl. Es war ein absolutes, tief verwurzeltes Wissen, das keine Begründung brauchte. Etwas lauerte dort unten, hinter der verschlossenen Tür.