Unabhängig davon war sich Mogens des Umstandes bewusst, dass er Graves gegenüber alles andere als objektiv war. Mit dem, was Graves ihm am Morgen offenbart hatte, hatte er ihn quasi überrumpelt, aber mit jeder Minute, die verstrich, erwachte Mogens' Misstrauen weiter. Es spielte keine Rolle, ob er Graves' Verhalten fair beurteilte oder nicht. Die Wahrheit war: Er wollte ihm gegenüber nicht Gerechtigkeit walten lassen. Etwas in ihm hatte regelrecht Angst vor dem Augenblick, in dem er vielleicht zugeben musste, im Unrecht gewesen zu sein. Graves hatte sich in einem Punkt geirrt: Während der letzten neun Jahre war es nicht nur der Schmerz um Janice gewesen, der ihm die Kraft zum Weiterleben gegeben hatte, sondern mindestens in gleichem Maße auch sein Hass auf Jonathan Graves. Er war nicht bereit, ihn auch noch aufzugeben.
Das Scheppern wiederholte sich, und es klang diesmal eindeutig ungeduldiger, fast zornig. Mogens warf noch einen letzten, abschließenden Blick in den aufgeschlagenen Folianten - mittlerweile weigerten sich selbst die Buchstaben, einen Sinn zu ergeben, sondern reihten sich vor seinen Augen zu einer Kette wirrer Zeichen und Symbole, die sich auf unheimliche Weise zu bewegen begannen, wenn er sie zu lange anblickte -, sah die Sinnlosigkeit seines Tuns endlich ein und klappte das Buch endgültig zu. Vielleicht erwartete er einfach zu viel von sich selbst. Immerhin hatte er heute Dinge erfahren, die nicht nur die letzten neun Jahre seines Lebens in einem vollkommen anderen Licht erscheinen ließen, sondern auch sein gesamtes Weltbild ins Wanken brachten. Glaubte er tatsächlich, dies alles mit einem Achselzucken abtun und zur Tagesordnung übergehen zu können, als wäre nichts passiert?
Die Antwort auf diese Frage war ein ganz eindeutiges Ja, aber die Vorstellung war zugleich auch so absurd, dass er über sich selbst den Kopf schüttelte, während er das Buch an seinen angestammten Platz auf dem Regal zurückstellte und zur Tür ging.
Das Scheppern und Klingen ertönte zum dritten Mal, als Mogens die Tür öffnete, und als er aus dem Haus trat und in das ihm nach Stunden angestrengten Lesens im Halbdunkel seiner Hütte als gleißend hell erscheinende Sonnenlicht blinzelte, bot sich ihm ein Anblick, der ebenso verblüffend wie komisch war: Miss Preussler stand, mit Kittelschürze und Häubchen bewaffnet, auf den Stufen ihres Hauses und hielt einen großen Kochtopfdeckel am ausgestreckten rechten Arm. Ihre andere Hand hielt eine ebenso großformatige Schöpfkelle, mit der sie fröhlich auf selbigen einschlug.
Mogens war nicht der Einzige, den der Lärm neugierig gemacht hatte. Beinahe gleichzeitig mit ihm trat auch Graves aus dem Haus. Selbst über die große Entfernung hinweg glaubte Mogens den verärgerten Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen.
»Was ist denn da los?«, raunzte er. »Was soll dieser infernalische Lärm, Miss Preussler?«
Miss Preussler schlug fröhlich noch zweimal mit dem Schöpflöffel gegen ihren improvisierten Gong. »Das Essen ist fertig«, rief sie. »Wo bleiben Sie denn?«
»Essen?« Graves wiederholte das Wort, als könne er nicht wirklich etwas damit anfangen.
»Es ist Mittagszeit, Doktor«, antwortete Miss Preussler. »Also kommen Sie bitte, bevor alles kalt wird.«
Damit verschwand sie wieder im Haus, und die Tür fiel hinter ihr zu. Graves warf Mogens einen fast hilflosen Blick zu, auf den dieser aber nur mit einem knappen Achselzucken reagierte, bevor er wieder ins Haus zurücktrat, um sich die Hände zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen; es war das letzte, das er in seinem Koffer fand. Sein Magen knurrte wieder, als hätten Miss Preusslers Worte jeden seiner Körperteile einzeln daran erinnert, dass er heute noch nichts zu sich genommen hatte, und ihre lautstarke Einladung zum Essen kam Mogens nur recht. Er wäre ihr allerdings auch gefolgt, wenn er nicht hungrig gewesen wäre. Sich einer Einladung Miss Preusslers zum Essen entziehen zu wollen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Zum Abschluss trat er noch einmal an den fleckigen Spiegel über dem Waschbecken heran, nur um sicherzugehen, dass sein Äußeres Miss Preusslers gestrengen Blicken auch standhalten würde.
Der Blick in den Spiegel war... unheimlich. Die blinden Stellen und zahllosen Kratzer und Schrammen nahmen seiner Physiognomie jegliche Vertrautheit, aber sie machten sie nicht wirklich zu der eines Fremden, sondern ließen sie auf eine düstere Weise falsch erscheinen, so wie ein menschliches Gesicht niemals aussehen sollte. Es war nicht einmal wirklich erschreckend, aber Mogens musste plötzlich wieder an das denken, was Graves ihm am Morgen erzählt hatte, über die Dinge, die Menschen niemals sehen sollten, und das machte ihm Angst. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und er war nicht einmal überrascht, als die Schatten hinter seinem Spiegelbild zu scheinbarem Leben zu erwachen begannen.
Mogens gestattete den abstrusen Ausgeburten seines Unterbewusstseins nicht, sich zu materialisieren, sondern drängte sie mit einer bewussten Willensanstrengung zurück und verließ mit schnellen Schritten das Haus. Als er die Stelle passierte, an der der Spiegel ihm die tänzelnden Schatten vorgegaukelt hatte, vermeinte er etwas wie einen eisigen Hauch zu spüren, der seine Seele streifte. Mogens unterdrückte das Frösteln, das über seinen Rücken laufen wollte, und erteilte sich selbst in Gedanken eine weitere Rüge. Sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er sich in einer außergewöhnlichen Gemütsverfassung befand, gab seiner Fantasie noch lange nicht das Recht, derart über die Stränge zu schlagen.
Obwohl er sich beeilt hatte, kam er als Letzter an. Tom hatte bereits am Tisch Platz genommen, während Graves zwei Schritte daneben stand und irgendwie hilflos wirkte, um nicht zu sagen, deplatziert. Ebenso wie Tom trug er die gleichen Kleider wie am Morgen. Miss Preussler goutierte den Umstand, dass Mogens sich - wenn auch als Einziger - zum Essen umgezogen hatte, mit einem dankbaren Lächeln, fragte aber trotzdem in prophylaktisch-missbilligendem Ton: »Sie haben sich doch hoffentlich die Hände gewaschen, Professor?«
Ihr verstohlenes Blinzeln entging Mogens so wenig wie das mühsam unterdrückte Funkeln in ihren Augen, aber er beschloss, das Spiel mitzumachen und streckte gehorsam die Hände aus, sodass Miss Preussler seine Fingernägel begutachten konnte.
»So ist es gut«, sagte sie zufrieden. »Bei all diesen alten Büchern weiß man ja nie, wer sie vorher angefasst hat und welche Krankheiten er womöglich gehabt hat!« Sie deutete auf den Tisch. »Setzen Sie sich, Professor. Und was ist mit Ihnen, Doktor Graves?«
Mogens hätte fast laut aufgelacht, als er sah, dass Graves ganz automatisch auf seine schwarzen Handschuhe hinabsah, bevor er sich in ein reichlich verunglücktes Lächeln rettete. »Miss Preussler, wir... essen hier eigentlich nicht zu Mittag.«
»Ja, so habe ich mir das gedacht«, sagte Miss Preussler. »Aber mit dieser halb garen Männerwirtschaft ist ab sofort Schluss. Ich glaube, es war höchste Zeit, dass hier endlich eine Frau nach dem Rechten sieht. Wissen Sie denn nicht, wie wichtig eine regelmäßige Ernährung ist, Doktor?«
»Ihre Sorge in Ehren, Miss Preussler«, sagte Graves in nun leicht ungeduldigem Ton. »Aber für so etwas haben wir keine Zeit.«