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»Humbug!«, fuhr ihm Miss Preussler über den Mund. »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, und ein leerer Bauch studiert nicht gern, oder etwa nicht?« Sie wedelte unwillig in Richtung Tisch. »Jetzt setzen Sie sich schon und fangen an zu essen. Oder wollen Sie mich beleidigen?«

Mogens spürte, wie irgendetwas hinter Graves' noch immer halbwegs beherrschter Fassade umzukippen drohte. Während er seinen Teller heranzog und nach dem Besteck griff, sagte er rasch: »Aber Miss Preussler! Haben Sie vergessen, dass Doktor Graves nur gewisse Nahrungsmittel zu sich nehmen darf?«

»Oh«, sagte Miss Preussler betroffen. Sie hatte es vergessen. Aber sie fing sich sofort wieder. »Wenn Sie mir die Zutaten Ihrer speziellen Diät nennen, kümmere ich mich gerne auch darum.«

»Nein, danke«, sagte Graves eisig. »Ich gehe zurück an meine Arbeit. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich ebenfalls ein wenig beeilen würden, meine Herren.«

Er ging. Tom wollte sich unverzüglich erheben und ihm nacheilen, erstarrte aber dann mitten in der Bewegung, als ihn ein eisiger Blick aus Miss Preusslers Augen traf. »Und unterstehe dich, etwa zu schlingen, Thomas«, sagte sie streng. »Eine zu hastig gegessene Mahlzeit ist fast ebenso schädlich wie eine ausgelassene!«

Tom verdrehte die Augen, war aber zugleich auch klug genug, nicht zu widersprechen. Mogens grinste. Allerdings nur, solange Miss Preussler nicht in seine Richtung sah.

Zumindest war es die Mahlzeit wert, Miss Preusslers Vorhaltungen zu ertragen. Mogens hatte seine Zimmerwirtin schon immer als gute Köchin geschätzt, aber heute hatte sie sich selbst übertroffen. Er vertilgte nicht nur die Portion, die er schon auf seinem Teller vorgefunden hatte, sondern auch noch eine zweite, und er hätte sich vermutlich auch noch ein weiteres Mal nachgenommen, hätte Tom ihn nicht immer verwirrter - und auch ein bisschen vorwurfsvoll - angesehen. Er selbst hatte nur lustlos auf seinem Teller herumgestochert und kaum etwas zu sich genommen.

»Nimm es mir nicht übel, Tom«, sagte Mogens mit vollem Mund. »Nichts gegen deine Kochkünste, aber Miss Preusslers Küche ist nun einmal etwas ganz Besonderes.«

Tom runzelte die Stirn. Er war beleidigt. Mogens ließ es dabei bewenden, trank zum Abschluss noch eine Tasse starken schwarzen Kaffee und stand schließlich auf. »Das war wirklich ganz ausgezeichnet, Miss Preussler. Aber nun muss ich mich leider verabschieden. Ich fürchte, Doktor Graves hat Recht: Wir haben wirklich sehr viel zu tun.«

»Gehen Sie ruhig, Professor«, antwortete Miss Preussler. Sie sah sich demonstrativ um und fügte seufzend hinzu: »Ich habe auch noch reichlich Arbeit hier.«

Mogens fragte sich zwar im Stillen, was sie meinen könnte - denn abgesehen von den unvermeidbaren Spuren, die das Zubereiten der Mahlzeit hinterlassen hatte, war es hier drinnen so sauber, dass man buchstäblich vom Boden essen konnte -, aber er stellte vorsichtshalber die Frage nicht laut. Das Ergebnis wäre ohnehin nur eine spitze Bemerkung oder ein endloser Vortrag über die Unvereinbarkeit der Begriffe Männer und Ordnung gewesen; oder wahrscheinlich beides. Er forderte Tom nur mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen, und verließ das Haus.

Tom wollte sich unverzüglich in Richtung seiner Unterkunft entfernen, aber Mogens hielt ihn mit einer schnellen Bewegung zurück. »Einen Moment, Tom.«

Tom blieb gehorsam stehen, aber er tat es auch ebenso unübersehbar widerwillig, und er blickte so anklagend auf die Hand hinab, die ihn festhielt, dass Mogens den Arm hastig zurückzog. »Ja?«

»Das gerade war nicht so gemeint, Tom«, sagte er. »Ich bin von allen hier am meisten erleichtert, wenn sie endlich wieder weg ist. Aber glaub mir, Tom, es ist nicht besonders klug, Miss Preusslers Unmut zu erregen.«

Tom nickte. Er sagte nichts. Im ersten Moment kam Mogens seine Verstocktheit geradezu kindisch vor, aber dann führte er sich vor Augen, dass Tom genau das war: ein Kind. Statt weiter auf das Thema einzugehen und es damit allerhöchstem noch schlimmer zu machen, sagte er: »Wir müssen sie von hier wegbringen, Tom. Am liebsten wäre mir, heute noch.«

»Das wird nicht gehen«, antwortete Tom. »Sheriff Wilson hat verboten, dass irgendjemand das Lager verlässt, bevor der Unfall nicht restlos aufgeklärt ist.«

»Aber das ist er doch«, sagte Mogens mit geschauspielerter Verwunderung. »Oder etwa nicht?«

Tom zog die Unterlippe zwischen die Zähne und starrte an ihm vorbei ins Nichts. Er schwieg.

»Ich meine: Für den Sheriff müsste die Sache ganz klar sein«, fuhr Mogens fort. »Mercer war betrunken. Jedermann weiß, dass er praktisch immer betrunken war. Dazu noch das schlechte Wetter. Bei diesem höllischen Gewittersturm wäre es selbst einem nüchternen Fahrer nicht leicht gefallen, den Wagen auf der Straße zu halten. Kein Wunder, dass Mercer die Gewalt über das Steuer verloren hat.«

»Ja, so muss es wohl gewesen sein«, antwortete Tom, noch immer ohne ihn anzublicken.

»Zumindest für Wilson.«

Tom sah erschrocken hoch und senkte dann hastig wieder den Blick. Er sah aus, als wünsche er sich weit weg.

»Nur, dass Mercer gar nicht betrunken war«, fuhr Mogens fort, »jedenfalls nicht mehr als sonst. Und dass sie mindestens eine Stunde vor dem Unwetter losgefahren sind. Bis zu der Stelle, an der sie von der Straße abgekommen sind, haben sie allerhöchstem fünf Minuten gebraucht.« Er hielt Tom bei diesen Worten aufmerksam im Auge, aber der Junge starrte nur weiter blicklos ins Leere.

»Graves hat mir alles erzählt«, sagte er gerade heraus.

Tom schrak nun doch ein wenig zusammen, und Mogens fuhr rasch und mit einem beruhigenden Kopfschütteln fort: »Ich bin dir nicht böse, Tom. Ich bin sicher, du hast mich nicht freiwillig angelogen.«

»Doktor Graves hat es von mir verlangt«, sagte Tom leise. Wieder wich er Mogens' Blick aus, wenn auch jetzt wohl aus vollends anderen Gründen.

»Ich weiß«, antwortete Mogens. »Das hat er mir ebenfalls gesagt.« Er lächelte, um die Situation ein wenig zu entspannen. »Und ich muss schon sagen, deine Erklärung war so überzeugend, dass ich sie tatsächlich geglaubt habe.«

»Das war nicht meine Idee«, antwortete Tom.

»Graves?«

Tom nickte, und Mogens spürte ein rasches Aufwallen von fast bizarrer Wut. Wäre diese Erklärung von Tom gekommen, hätte er sie bewundert, da sie jedoch von Graves kam, ärgerte sie ihn ungemein.

»Du warst trotzdem gut«, sagte er nach einer winzigen Pause, und auch nicht in vollkommen überzeugendem Ton. »Und ich sage es noch einmaclass="underline" Ich bin dir nicht böse. Ich kenne Doktor Graves schon eine Weile länger als du. Ich weiß, dass er sehr... überzeugend sein kann, wenn er etwas wirklich will.« Er machte eine Kopfbewegung zum anderen Ende des Lagers hin. »Komm mit, Tom. Gehen wir ein Stück.«

»Doktor Graves...«, begann Tom unsicher.

»Das geht schon in Ordnung«, unterbrach ihn Mogens. »Ich möchte, dass du mir ein wenig über dich erzählst.«

»Über mich?« Tom wirkte regelrecht erschrocken.

Mogens nickte, aber er setzte sich auch in Bewegung und ging langsam los, sodass Tom ihm wohl oder übel folgen musste, bevor er antwortete. »Doktor Graves hat mir erzählt, wie ihr euch kennen gelernt habt.«

Diesmal fuhr Tom mehr als nur ein wenig zusammen. In seinen Augen flammte Panik auf. »Er...?«

»Diese... Kreaturen haben deine Eltern getötet, nicht wahr?«, fragte Mogens rasch. Er verbesserte sich. »Deine Adoptiveltern.«

»Sie waren meine Eltern«, antwortete Tom. Er wirkte verwirrt, beinahe verstört, als hätte er etwas gänzlich anderes erwartet. »Jedenfalls für mich.«

»Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, sagte Mogens. »Ich kann mir vorstellen, dass es dir schwer fällt.«

Sie legten vier oder fünf Schritte zurück, bevor Tom antwortete, und als er es tat, da war seine Stimme auf fast unheimliche Weise verändert. Er sah abwechselnd Mogens und die Barriere aus nahezu undurchdringlichem Dickicht an, auf die sie sich langsam zubewegten, aber seine Augen schienen etwas vollkommen anderes zu sehen. »Niemand hat mir geglaubt«, sagte er. »Ich habe sie gesehen, und ich habe es allen erzählt, aber niemand hat mir geglaubt.« Vielleicht war es ein bitteres Lachen, das Mogens hörte, vielleicht auch ein unterdrücktes Schluchzen, als ihn die Erinnerung zu übermannen drohte. Mogens hatte ein schlechtes Gewissen, dem Jungen diese Qualen zuzumuten, aber er hatte mehr denn je das Gefühl, dass es wichtig war, alles zu erfahren und nicht nur das, was Graves ihm verraten wollte.