»Erzähl einfach, Tom«, bat er. »Und hör auf, wenn es zu schlimm wird.« Als ob er das könnte! Mogens hatte zu viele eigene und schmerzhafte Erfahrungen im Erzählen schlimmer Geschichten, um nicht zu wissen, dass es unmöglich war, aufzuhören, wenn man erst einmal die Kraft aufgebracht hatte, anzufangen.
»Wir haben ganz hier in der Nähe gelebt«, begann Tom. »Gleich auf der andern Seite des Friedhofs. Meine Eltern hatten dort 'ne kleine Farm. Heute gibt es sie nicht mehr. Sie ist verfallen, nachdem niemand mehr dort gelebt hat, und irgendwann ist Feuer ausgebrochen. Was übrig geblieben ist, hat sich der Sumpf geholt. Aber damals haben wir hier gelebt, und es war 'n gutes Haus.« Seine Hand deutete nach Osten; vermutlich in die Richtung, in der die Farm gelegen hatte. Mogens fragte sich, was man in einer Gegend wie dieser anpflanzen konnte. »Mein Vater hat sich was dazuverdient, indem er auf den alten Friedhof Acht gegeben hat. Niemand wollte das machen. Die Leute haben komische Geschichten über den Friedhof erzählt, und es wurd auch nicht gut bezahlt, aber wir brauchten das Geld. Die Farm hat nicht viel abgeworfen. Und dann war da auch noch das Baby.«
Mogens wich einer der zahllosen Pfützen aus, die der gestrige Regen zurückgelassen hatte, und wappnete sich innerlich dagegen, jetzt möglicherweise Toms gesamte Lebensgeschichte zu hören. Trotzdem lieferte er Tom gehorsam das gewünschte Stichwort: »Baby?«
»Eine Schwester«, bestätigte Tom. »Ich war acht, als sie geboren wurde.« Er lächelte schüchtern. »Vielleicht auch neun. Sie war von Anfang an krank und ist kein Jahr alt geworden.«
»Sie ist gestorben?«, vergewisserte sich Mogens.
»Gleich im ersten Winter«, bestätigte Tom. »An Lungenentzündung.«
»Das tut mir Leid«, sagte Mogens.
»Ich hab sie ja gar nicht richtig gekannt«, erwiderte Tom. »Sie war immer nur krank. Wenn sie nicht geschrien hat, hat sie geschlafen. Und im ersten Winter ist sie gestorben. Mein Vater hat sie aufm Friedhof beerdigt, aber es war 'n besonders schlimmer Winter. Der Boden war so hart gefroren, dass er kein Grab ausheben konnte.«
»Und da hat er sie in ein altes Grab gelegt«, vermutete Mogens.
»Es hat niemandem mehr gehört«, sagte Tom im hastigen Tonfall einer Verteidigung. »Es hat bestimmt fünfzig Jahre leer gestanden. Niemand hat sich drum gekümmert, und es sollte ja auch nicht für lange sein, nur bis meine Eltern das Geld für 'ne richtige Beerdigung zusammenhatten oder bis zum Frühjahr, bis der Boden nicht mehr so hart gefroren war, und...«
»Ist ja schon gut«, unterbrach ihn Mogens. »Ich kann das verstehen. Aber wie hast du das gemeint - es hat lange leer gestanden? Ein Grab steht nicht leer. War es ein Mausoleum?«
»Ja«, antwortete Tom. »Deshalb hat mein Vater sie auch da beerdigt.«
»Aber als er sie umbetten wollte, da war ihr Leichnam verschwunden«, vermutete Mogens.
Tom nickte wortlos. Mogens wollte eine weitere Frage stellen, aber seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er sich gefragt, ob er es Tom zumuten konnte, über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit zu sprechen, und nun war er es, den die Erinnerungen zu übermannen drohten.
Sie verließen das Lager und gingen ein gutes Stück an der grünen Dornenbarriere entlang, die das knappe halbe Dutzend altertümlicher Blockhütten von der Friedhofsmauer trennte, bevor Mogens die Kraft fand, weiterzusprechen.
»Und weiter?«
»Sheriff Wilson ist gekommen und sogar 'n Detektiv aus der Stadt«, antwortete Tom. »Sie haben alles abgesucht, den ganzen Friedhof, aber sie haben nichts gefunden.«
Wie gut er diese Geschichte doch kannte. »Sie konnten nichts finden.«
»Ja, aber das wusst ich damals noch nicht«, antwortete Tom. Seine Stimme wurde hart, und ein Unterton von kaltem, unversöhnlichem Zorn erschien darin, Zorn gegen alle und jeden und gegen sich selbst. »Niemand hat meinem Vater geglaubt. Nicht mal ich.«
»Aber er hatte Recht.«
»Von da an hat er sich jede Nacht auf die Lauer gelegt«, fuhr Tom mit leiser, vollkommen ausdrucksloser Stimme fort. »Nacht für Nacht, Wochen, Monate...« Er hob die Schultern. »Ich glaub, die Leute in der Stadt haben ihn für verrückt gehalten.«
»Und du?«
Tom zuckte erneut die Achseln, als wäre das Antwort genug. »In einer Nacht hab ich Schüsse gehört. Zwei oder drei, ich weiß nicht mehr genau. Meine Mutter hatte Angst und ich auch. Nicht viel später fiel dann noch mal 'n Schuss. Diesmal nur einer, und dann konnten wir meinen Vater schreien hören. Ich hab noch nie zuvor 'nen Menschen so schreien hören. Ich hab gewartet, dass er wieder schießt, aber es war still. Er hat nicht mehr geschossen.«
Etwas sehr Sonderbares geschah, das Mogens regelrecht erschreckte, obwohl der Wissenschaftler in ihm den Grund dafür natürlich kannte: Jetzt, als Tom über die allerschlimmsten Momente sprach, die seine Erinnerung für ihn bereit hielt, wurde seine Stimme ganz ruhig. Schmerz und Zorn waren daraus verschwunden, als berichte er von etwas, das einem anderen widerfahren war, und gar nicht ihm selbst. »Meine Mutter hatte schreckliche Angst. Sie hat versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich hab es gemerkt. Sie hat Vaters zweite Büchse aus dem Schrank geholt und mich auf den Dachboden geschickt, damit ich mich verstecke. Ich wollte das nicht. Ich wollt sie beschützen, aber dann hab ich doch gehorcht.«
Und vermutlich hatte er sich genau das nie vergeben, dachte Mogens. Ein acht- oder neunjähriger Junge, der mit angehört hatte, wie sein Vater starb und auch seine Mutter nicht hatte retten können. Wie konnte er sich das jemals vergeben? »Später sind sie dann gekommen«, fuhr Tom fort. »Ich hab nichts gesehen. Es gab ein paar Ritzen in den Bodenbrettern, aber ich konnte nichts erkennen, und meine Mutter hatte mich eingeschlossen. Ich hab Schüsse von unten gehört. Ein oder zwei Schüsse und... und diese Schritte, schwere, schlurfende Schritte. Und dann dieses schreckliche Atmen.«
»Du hast sie nicht gesehen?«
»Irgendwie hab ich die Klappe dann doch aufgekriegt. Meine Mutter war nicht mehr da, alles war voller Blut. Und dann hab ich es gesehen. Nur ganz kurz. Es war nur ein Schatten vor dem Nachthimmel, aber es war nicht der Schatten eines Menschen.«
»Und deine Mutter?«, fragte Mogens. Es war eine dumme Frage, durch und durch überflüssig, aber er spürte, wie nahe Tom plötzlich doch daran war, die Beherrschung zu verlieren. Er musste ihn - gleich wie - aus jenem schrecklichen Moment herausreißen, in dem das neunjährige Kind begriffen hatte, dass es nichts anderes tun konnte, als hilflos dabei zuzusehen, wie seine Mutter vor seinen Augen verschleppt wurde. Einen Moment lang schien es, als wäre dieser verzweifelte Versuch zum Scheitern verurteilt, aber dann kroch die Dunkelheit ebenso plötzlich wieder in die Tiefe seiner Augen zurück, wie sie zuvor Besitz davon ergriffen hatte.
»Sie haben sie nie gefunden. Und meinen Vater auch nicht.«
»Und niemand hat dir geglaubt«, sagte Mogens leise. »Du hast es allen erzählt, aber niemand hat dir geglaubt. Man hat dir nicht einmal zugehört, habe ich Recht?«
Tom schüttelte stumm den Kopf. »Sheriff Wilson hat mich für 'ne Weile bei sich wohnen lassen«, antwortete er. »Er hat mir immer wieder dieselben Fragen gestellt. Er wollte unbedingt rausfinden, was wirklich passiert ist. Am Schluss haben sie dann entschieden, dass meine Eltern von wilden Tieren verschleppt worden sind.«