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»So ganz falsch hat er damit ja auch gar nicht gelegen«, sagte Mogens.

»Sie sind keine Tiere!«, antwortete Tom zornig. »Ich weiß nicht, was sie sind, aber sie sind keine Tiere!« Seine Stimme bebte, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck, der Mogens schaudern ließ. Nicht einmal, weil dieser Hass so intensiv und unstillbar war, sondern weil er ihn überhaupt sah. Ein so junger Mensch sollte nicht so furchtbar hassen, und vielleicht war das das eigentliche Verbrechen, das die Kreaturen aus den Tiefen der Erde ihm angetan hatten: Sie hatten ihn hassen gelehrt, auf eine Art, auf die kein Mensch jemals hassen sollte.

»Später sind dann Leute aus der Stadt gekommen, die noch mal alles untersucht haben. Sie haben auch viele Fragen gestellt.«

»Aber niemand hat dir geglaubt«, wiederholte Mogens leise. Er erschrak, als er sich selbst des bitteren Klangs bewusst wurde, der in seiner Stimme war. Für einen Moment glaubte er sich in seine eigene Vergangenheit zurückversetzt, und der hilflose Schmerz des Jungen wurde zu seinem eigenen. Wie gut er Tom doch verstehen konnte! Der arme Junge konnte es nicht wissen, aber er erzählte in diesen Augenblicken nicht nur seine eigene Geschichte, sondern zugleich auch die seine, Mogens'. Er fragte sich, wie viele Leben die unheimlichen Geschöpfe schon auf diese Weise zerstört hatten. Zum allerersten Mal im Leben wurde er sich der tatsächlichen Bedeutung des Wortes Mitleid bewusst, denn genau das war es, was er in diesem Moment empfand, in einer Intensität, die beinahe an wirklichen körperlichen Schmerz grenzte: zwei Menschen, die das gleiche Leid teilten.

»Sie haben mich mit nach San Francisco genommen«, fuhr Tom fort. »In ein Waisenhaus. Aber ich bin immer wieder weggelaufen. Nach dem dritten oder vierten Mal hat Sheriff Wilson dann entschieden, dass ich hier bleiben darf.«

Mogens sah ihn zweifelnd an. »Aber damals kannst du höchstens neun oder zehn Jahre alt gewesen sein.«

»Alt genug, um für mich selbst zu sorgen«, antwortete Tom in fast trotzigem Ton. »Es gibt immer Arbeit für jemanden, der keine Angst hat, schmutzige Finger zu kriegen.«

Oder den einen oder anderen kleinen Diebstahl zu begehen, fügte Mogens lautlos hinzu. Aber er dachte diesen Gedanken voller Gutmütigkeit und Wärme, und mit einem solchen Gefühl von Zuneigung, dass es ihn fast selbst überraschte. Mehr noch: Er musste plötzlich an sich halten, um Tom nicht in die Arme zu schließen und tröstend an sich zu pressen. Dass er es nicht tat, lag womöglich weniger daran, dass er Angst hatte, der Junge könne die Geste falsch verstehen, sondern in mindestens ebenso großem Maße daran, dass es zuzugeben bedeutet hätte, dass er diesen Trost mindestens so nötig brauchte wie Tom.

Mogens räusperte sich ein paar Mal, um den unbehaglichen Moment zu überbrücken. Fast ohne sich der Bewegung selbst bewusst zu sein, trat er zwei Schritte von Tom zurück, um auf diese Weise nicht nur die äußere Distanz zwischen ihnen zu vergrößern.

»Und darum bewachst du jetzt hier den Friedhof«, vermutete er.

Tom nickte abgehackt. Sie hatten die ausgefahrene Spur erreicht, die vom Lager wegführte, und sein Blick war starr dorthin gerichtet, wo das schmutzige Grauweiß der Friedhofsmauer durch das Blattwerk hindurchschimmerte wie Bein durch verwesendes Fleisch. »Sheriff Wilson hat mir den alten Posten meines Vaters gegeben. Er sagte, damit ich mir was verdienen kann, und weil es sonst niemand machen will. Er weiß es, Professor. Er weiß es so wie alle anderen. Niemand muss einen leeren Friedhof bewachen, auf dem seit zwanzig Jahren keiner mehr beigesetzt wurde. Es ist so, wie Doktor Graves sagt: Sie alle wissen es. Sie wollen es nur nicht wissen. Und sie wollen nicht, dass es ihnen jemand sagt.« Er lachte leise, nur, dass es kein wirkliches Lachen war, sondern ein Laut, der sich wie eine Messerklinge aus Eis in Mogens' Seele bohrte. »Er wartet nur darauf, dass sie mich auch holen.«

Abermals erschrak Mogens über die Bitterkeit, die in Toms Stimme war. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht gab es einen Grund für all die uralten düsteren Geschichten, die sich um Friedhöfe rankten, nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Möglich, dass die Menschen tief in sich schon immer das Wissen um die Geschöpfe der Nacht getragen hatten, und dass es kein Zufall war, dass es nur in Legenden und Schauergeschichten Ausdruck fand. Waren nicht die überzeugendsten Lügen die, die sich mit dem Mantel der Wahrheit tarnten? Mit einem Male wurde ihm klar, wie ungeheuerlich die Aufgabe war, die sich Graves und dieser Junge - und mit ihnen auch er - vorgenommen hatten. Es war kein Zufall, dass die Menschen das Wissen um dieses furchtbare letzte Geheimnis in ihre Legenden und Mythen verbannt hatten. Wie konnten sie erwarten, dass sie etwas als Wahrheit akzeptierten, mit dem Eltern seit tausend Generationen ihre Kinder erschreckten?

Dennoch sagte er nach einer Weile: »Vielleicht wollte er dir nur einen Gefallen tun.«

Tom sah ihn fast verächtlich an. »Ja, vielleicht.« Er wandte sich mit einem Ruck ab und wollte gehen, doch Mogens hielt ihn auch jetzt wieder zurück, wenn auch diesmal nur mit einer Geste, und ohne ihn zu berühren. »Zeigst du es mir?«, fragte er. »Was?«

»Das Grab«, antwortete Mogens. »Das Mausoleum, in dem deine Schwester...«

Er sprach nicht weiter, aber Tom hatte ihn verstanden und nickte. Allerdings rührte er sich auch nicht von der Stelle. »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen, Professor?«, fragte er. »Die Frage ist, ob du dir sicher bist, Tom«, antwortete Mogens sanft.

Seine Taktik ging auf. Er hatte auf den Stolz des Kindes gezielt, das Tom trotz allem immer noch war, und offensichtlich hatte er getroffen. Tom funkelte ihn einen Atemzug lang beinahe zornig an, aber dann drehte er sich mit einem Ruck um und schlug die dünnen Äste mit einer so wütenden Bewegung beiseite, dass Mogens schützend die Hände hochreißen musste, damit sie ihm nicht ins Gesicht peitschten, als er ihm folgte.

Mogens war im Innersten nicht annähernd so sicher, wie er sich Tom gegenüber gab. Ganz im Gegenteiclass="underline" Tom hatte ihn gründlicher durchschaut, als er zuzugeben bereit war, als er ihn fragte, ob er wirklich sicher sei, auf den Friedhof gehen zu wollen. Er war nicht sicher. Er hatte panische Angst davor, diesen Friedhof zu betreten. Toms Erzählung hatte auch die Gespenster seiner eigenen Vergangenheit wieder geweckt, und sein Herz schlug mit jedem Schritt schwerer, den er sich der verfallenen Mauer näherte. Und gerade deshalb musste er es jetzt zu Ende bringen, denn Mogens ahnte, dass er vielleicht nie wieder den Mut dazu aufbringen würde, wenn er jetzt kehrtmachte. Es war eine närrische Vorstellung - vielleicht sogar gefährlich -, dass man jeder Furcht Herr werden konnte, wenn man sich nur zwang, ihr ins Auge zu sehen, aber in diesem Fall traf sie zweifellos zu. Dennoch wurde Toms Vorsprung beständig größer. Dass er anhalten und auf Mogens warten musste, bis dieser hinter ihm über die Mauer gestiegen war, lag nicht nur daran, dass er der geübtere Kletterer war.

Auch bei Tageslicht bot der Friedhof einen durch und durch unheimlichen Anblick; auf eine Weise vielleicht sogar noch unheimlicher als bei Nacht. Wo die Nacht die Schatten im gleichen Maße zum Leben erweckte, wie sie die Umrisse der Dinge verschleierte, enthüllte das Tageslicht jede bizarre Einzelheit eines Ortes, der allmählich in der Erde versank. Die meisten Grabsteine standen schräg, wie Masten einer langsam verrottenden Flotte steinerner Galeeren auf einem bizarren megalithischen Schiffsfriedhof, und etliche waren auch zur Gänze umgefallen oder nahezu im Boden versunken. Die Erde fühlte sich auf unangenehme Weise weich an, nicht so morastig, dass er darin zu versinken drohte, sondern auf eine Unbehagen weckende Weise federnd, die einem das Gefühl gab, über ein straff gespanntes Segeltuch zu laufen, das bei der geringsten unbedachten Bewegung zu zerreißen drohte.