»Da hinten.« Tom deutete zur Mitte des Friedhofes. Mogens nickte, und Tom ging mit schnellen Schritten voraus, auch jetzt wieder so rasch, dass Mogens sich sputen musste, um nicht zu weit zurückzufallen.
Zur Mitte des Friedhofes hin wurden die Grabsteine allmählich größer, wie Häuser einer mittelalterlichen Stadt, die zum Zentrum hin immer prächtiger wurden, bis sie sich an den Fuß der zentralen Trutzburg schmiegten. Es gab nur ein einzelnes, bescheidenes Mausoleum, das nicht annähernd so prachtvoll war wie das, das Mogens' Albträume beherrschte. Dennoch stockte er, als er sich dem halbhohen, kantigen Gebilde aus verwittertem Sandstein näherte, das Toms Ziel war. Auch wenn die Ähnlichkeit allenfalls oberflächlich blieb, so war ihm doch, als bewege er sich nunmehr auch körperlich zurück in der Zeit, um sich dem schrecklichsten aller Augenblicke seines Lebens zu nähern.
Widerwillig setzte er sich wieder in Bewegung - er hatte tatsächlich das Gefühl, einen körperlichen Widerstand überwinden zu müssen, als wäre da etwas, das ihn mit verzweifelter Kraft zurückzuhalten versuchte - und näherte sich dem Mausoleum mit langsamen Schritten, was es ihm ermöglichte, das Gebäude in seiner Gänze in Augenschein zu nehmen.
Seine erste Einschätzung war nicht ganz fair gewesen. Das Mausoleum war deutlich kleiner als das auf dem Friedhof von Harvard, und Wände und der Eingang waren auch nicht so überreich mit Steinmetzarbeiten verziert, aber der Eindruck der Schäbigkeit rührte dennoch zum allergrößten Teil von den Spuren des Alters und der Verwitterung her, die die Jahrzehnte auf dem graubraunen Sandstein zurückgelassen hatten. Das Gebäude war auch deutlich größer, als er auf den ersten Blick angenommen hatte, doch wie die Grabsteine und - platten ringsum hatte es begonnen, im Boden zu versinken und stand auch ein wenig schräg. Die drei Stufen, die vormals zu der gut sechs Fuß hohen Tür hinaufgeführt hatten, waren nicht nur schief und zu einem Mosaik aus Hunderten von Bruchstücken geborsten, sondern begannen nun auch gute zwei Fuß unter dem Bodenniveau, sodass es Mogens einiges an Mühe kostete, in das Gebäude zu gelangen, ohne sich den Knöchel zu verstauchen oder sich den Kopf am Türsturz anzuschlagen.
Er zögerte auch unmerklich, es zu tun. Obwohl im hellen Tageslicht daliegend, bot der Eingang doch einen unheimlich düsteren Anblick. Die Dunkelheit auf der anderen Seite schien absolut, aber sie war es nicht, die Mogens innerlich erschauern ließ. Es war die physikalisch nicht existente Trennlinie zwischen Dunkelheit und Licht, die gedachte Schwelle, auf der das Grauen lebte. Bildete er es sich ein oder versuchte die Dunkelheit tatsächlich, schattige Arme auszubilden, die wie nervendünne peitschende Tentakel in die Wirklichkeit hinauszugreifen trachteten?
Mogens schloss die Augen und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch. Nichts geschah. Natürlich geschah nichts.
Tom war bereits vorausgeeilt und entzündete eine Sturmlaterne, deren gelber Schein mit dem wenigen hereinströmenden Tageslicht wetteiferte. Mogens sah sich schaudernd um. Er wusste nicht, was er erwartet hatte - nichts Konkretes sicherlich, aber irgendetwas eben -, doch der Raum war vollkommen leer. Dennoch jagten Schauer der Furcht in rascher Folge über seinen Rücken. Das hier war seine Vergangenheit, auch wenn die Ähnlichkeit nur vage zu sein schien. Indem er Tom folgte, war er an den Anfang seiner eigenen Leidensgeschichte zurückgekehrt; vielleicht, um den Kreis zu schließen.
Mogens schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, das Innere des winzigen Raumes einer zweiten, etwas genaueren Inspektion zu unterziehen. Er blieb so leer, wie er war - ein niedriges Rechteck von allerhöchstens drei auf fünf Schritten. Auf dem Boden gab es ein etwas kleineres, helleres Rechteck, wo vielleicht einmal ein steinerner Sarkophag gestanden hatte, vielleicht auch nur ein Podest für einen hölzernen Sarg. Die Wände waren fleckig, was die Reste längst verblichener Malereien sein mochten, vielleicht auch nur Schmutz. Dennoch war etwas hier. Mogens konnte es spüren. Es war so intensiv, dass Mogens beinahe meinte, es mit Händen greifen zu können. Die Gespenster aus seiner Vergangenheit, die Gestalt anzunehmen versuchten.
»Hier?«, fragte er.
Tom deutete mit einer Kopfbewegung auf das helle Rechteck am Boden. Ohne dass es ihnen selbst bewusst gewesen wäre, hatten sie diesen unheimlichen Schatten aus der Vergangenheit gemieden und sich so dicht an die grauen Sandsteinwände gedrängt, dass ihre Füße außerhalb davon blieben. »Wir haben den Sarg hierhin gestellt«, sagte er. »Eigentlich war es gar kein richtiger Sarg, weil meine Eltern kein Geld dafür hatten, nur eine einfache Holzkiste. Aber wir hatten sie mit Steinen abgedeckt, und meine Mutter hatte einen Kranz aus Tannengrün geflochten.«
Seine Stimme drohte zu versagen und Mogens spürte erneut, wie gefährlich nahe er daran war, die Kontrolle zu verlieren. Mogens erinnerte sich mit Nachdruck daran, dass er nicht der Einzige war, den dieser Ort mit etwas konfrontierte, das besser ungeweckt geblieben wäre.
»Und du hast sie hier gesehen?«, fragte er rasch. »Diese... Kreaturen?«
»Am Anfang hab ich hier auf sie gewartet«, antwortete Tom. »Hier haben sie meinen Vater umgebracht. Sheriff Wilson hat sein Gewehr hier gefunden, und es war alles voller Blut. Ich hab gehofft, dass sie zurückkommen. Am Anfang hab ich sogar hier geschlafen. Mit einem Gewehr.«
»Aber sie sind nicht gekommen.«
»Ich glaube, sie wissen, dass wir hier sind«, murmelte Tom. »Sie beobachten uns. Sie wissen alles über uns - viel mehr als wir über sie.«
Mogens überwand seine instinktive Scheu und trat über das Rechteck am Boden hinweg, um die Wand, vor der Tom stehen geblieben war, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Etwas daran hatte seine Aufmerksamkeit erregt, ohne dass er im ersten Moment sagen konnte, was. Vielleicht eine bestimmte Anordnung der Schmutz- und Wasserflecken, eine Regelmäßigkeit, die sich dem bewusst suchenden Auge entzog, aber dennoch da war.
»Sie können sich die Mühe sparen, Professor«, sagte Tom. »Da ist nichts.«
Mogens blickte fragend, und Tom fuhr mit einem bekräftigenden Nicken fort: »Doktor Graves hat alles genau abgesucht. Er sagt, sie brauchen keine Geheimgänge oder -türen, um zu kommen oder zu gehen. Die Erde hält sie nicht auf, weil sie ihre ureigensten Geschöpfe sind.«
Mogens blickte zweifelnd, aber er erinnerte sich gerade nach rechtzeitig daran, dass dieser unscheinbare Junge die letzten fünf Jahre seines Lebens zusammen mit Graves verbracht hatte und vermutlich hundertmal mehr über diese unheimlichen Wesen wusste als er.
»Und so hast du auch Graves kennen gelernt«, vermutete er. »Ich nehme an, er hat von der Geschichte deiner Eltern gehört und ist deswegen hierher gekommen.«
Tom nickte. Ganz tief in seinen Augen glomm wieder ein Funke von Furcht auf, und Mogens sprach rasch und in bewusst leichterem Ton weiter. »Du musst mir unbedingt erzählen, was du auf deinen Reisen rausgefunden hast. Doktor Graves ist ein wenig knauserig, wenn es um Informationen geht.«
»Doktor Graves hat mir verboten, über unsere Reisen zu sprechen«, antwortete Tom. »Er will es Ihnen selbst sagen.«
»Du meinst: das, was er mir sagen will«, vermutete Mogens. Tom sah ihn einen Herzschlag lang hoffnungslos verwirrt an, aber dann lachte er.
»Ja. So ungefähr.« Er deutete mit seiner Laterne zur Tür. »Können wir jetzt wieder gehen? Ich fühl mich nicht sehr wohl hier. Und Doktor Graves ist bestimmt schon ungeduldig.«
25.