Er blieb stehen. Mogens hörte ihn einen Moment im Halbdunkel rumoren, dann vertrieb der Schein einer Petroleumlampe die Finsternis. Mogens erkannte, dass Graves vor einem unregelmäßig geformten Durchgang stehen geblieben war, der in eine Art Tunnel mit grob behauenen Wänden zu führen schien.
»Komm, Mogens. Aber pass auf deinen Kopf auf. Die Decke ist sehr niedrig.«
Trotz dieser Warnung und obwohl der Tunnel nur wenige Schritte maß und Mogens vorsichtig und weit nach vorne gebeugt ging, schrammte sein Hinterkopf zweimal unsanft gegen den harten Fels, bevor das Licht von Graves' Lampe vor ihm plötzlich an Leuchtkraft verlor, als es in einen weitaus größeren Raum fiel. Mogens machte einen letzten, schnellen Schritt und richtete sich erleichtert auf, und Graves hob seine Lampe und knüpfte an das an, was er auf der anderen Seite des Durchgangs begonnen hatte. »Und nachdem wir das hier gefunden hatten, haben wir zum ersten Mal überlegt, einen Kollegen zu Rate zu ziehen.«
»Falls es mit der Jagd auf Ungeheuer mal nicht mehr so klappt, solltest du dich vielleicht bei einem Schmierentheater bewerben«, sagte Mogens. »Untalentiert genug dazu bist du.«
Graves grinste fröhlich und hielt die Petroleumlampe höher, und Mogens vergaß schlagartig sämtliche Albernheiten und zog stattdessen überrascht die Augenbrauen hoch.
Der Schein dieser einzelnen Lampe reichte keineswegs aus, um den Raum auch nur zu einem nennenswerten Teil zu erhellen, aber er sah dennoch gleich, was Graves meinte.
Sie waren nicht die ersten Besucher, die hierher kamen. Der Boden war uneben und von tiefen Rissen durchzogen, hier und da aber offenbar künstlich geglättet, und er entdeckte allein auf dem kleinen Stück, das vom Licht der Laterne aus der vielleicht seit Jahrhunderten andauenden Finsternis gerissen wurde mindestens drei Feuerstellen, wo der Fels wieder und wieder so großer Hitze ausgesetzt gewesen war, dass sich Ruß und Asche schließlich für alle Zeiten in seine Oberfläche eingebrannt hatten.
»Das ist...«, begann er verblüfft.
»Ja«, sagte Graves in einem völlig unangemessen fröhlichem Ton. »Genau das habe ich auch gesagt, als ich es das erste Mal gesehen habe.«
Mogens hörte kaum noch hin, und das lag nicht allein daran, dass ihm Graves' kindisches Betragen allmählich auf die Nerven zu gehen begann. Er hätte wohl auch nicht hingehört, hätte Jonathan Graves in diesem Moment einen Satz von höchster wissenschaftlicher Bedeutsamkeit von sich gegeben. Er war viel zu sehr damit beschäftigt zu staunen.
Dabei war es keineswegs so, dass er so etwas zum ersten Mal gesehen hätte...
»Das ist beeindruckend, nicht?«, fragte Graves fröhlich. »Weißt du, woran es mich erinnert? An die Vorlesungen von Professor Talbot. Du erinnerst dich doch bestimmt noch, wie gefürchtet sie bei uns Studenten waren! Talbot und seine Megalithkulturen!« Er hob seine Lampe ein wenig höher, sodass ihr Schein auf einen etwas größeren Teil der Wände fiel. »Aber wenn man das hier sieht, kann man seine Begeisterung fast verstehen.«
»Jonathan, hör endlich auf zu plappern«, murmelte Mogens. »Weißt du eigentlich, was das hier ist?«
»Selbstverständlich«, antwortete Graves. »Die Frage ist doch wohl eher: Weißt du, was es ist?«
Mogens war plötzlich nicht einmal mehr ganz sicher, ob er Graves' Frage wirklich bejahen konnte. Die Wände waren mit primitiven Zeichnungen und Bildern übersät, und nahezu alles, was er erblickte, erinnerte auf schon fast verblüffende Art an genau die Fotografien und Illustrationen, für die Professor Talbot bei seinen Studenten tatsächlich berüchtigt gewesen war. Es waren Höhlenmalereien, Tausende von Jahren alt und jede für sich einmalig, und dennoch im Grunde nicht einmal etwas Besonderes, denn man fand sie an zahllosen Orten in Europa, Zentralafrika und auch Asien.
Nur nicht in Nordamerika.
»Das... das ist eine wissenschaftliche Sensation«, murmelte er.
»Ja, ja«, sagte Graves amüsiert. »Fast so sensationell wie die Entdeckung eines ägyptischen Anubis-Tempels dreißig Meilen östlich von San Francisco, nicht wahr?«
Mogens starrte ihn nur an. Graves gestattete sich den kleinen Luxus, sich eine kurze Weile an Mogens' unübersehbarer Verwirrung zu weiden, aber dann wurde er übergangslos wieder ernst. »Glaub mir, mein Freund, ich habe auf meinen Reisen noch viel unglaublichere Dinge gesehen. Aber deshalb habe ich dich nicht hergebracht. Fällt dir denn gar nichts auf?«
Mogens fiel eine ganze Menge auf, aber er war auch ziemlich sicher, dass nichts davon das war, was Graves meinte. Er hob die Schultern.
»Lassen wir die nebensächliche Frage einmal beiseite, wie ein Zeugnis der vorgeschichtlichen europäischen Megalithkultur auf den nordamerikanischen Kontinent kommt«, sagte Graves mit einem neuerlichen angedeuteten Lächeln, »so haben wir hier zweifellos einen heiligen Ort.«
Mogens schwieg noch immer, aber sein Gesichtsausdruck musste wohl Bände sprechen, denn Graves sah sich ganz offensichtlich zu einer Erklärung genötigt. »Ich habe mehr als einen solcher Orte mit eigenen Augen gesehen, Mogens«, sagte er und hob rasch die Hand. »Nein, ich weiß, was du jetzt sagen willst, aber wir haben weder die Zeit, noch bin ich in der Stimmung, eine theologische Diskussion mit dir zu führen. Seit jener schrecklichen Nacht glaube ich so wenig an Gott oder den Teufel wie du. Dennoch bin ich sicher, dass es so etwas wie heilige Orte gibt.«
»Das klingt logisch«, sagte Mogens spöttisch. Jedenfalls versuchte er, spöttisch zu klingen.
»Denk dir meinetwegen ein anderes Wort aus, wenn es dir so schwer fällt, diesen Begriff zu benutzen«, sagte Graves unwillig. »Ich habe solche Orte gesehen, Mogens. Heilige Plätze, an welche die Menschen seit dem Tag kommen, als sie angefangen haben, ihren Göttern zu huldigen. Man findet sie überall auf der Welt. Man muss nur genau hinsehen - oder tief genug graben. Eine mittelalterliche Kirche über einem römischen Tempel, und darunter ein keltischer Steinkreis. Noch tiefer vielleicht ein vorzeitlicher Ritualplatz, und wenn man noch tiefer gräbt...« Er hob die Schultern. »Es gibt Orte, denen etwas Besonderes anhaftet, und die Menschen spüren es. Seit Urzeiten kommen sie zu diesen Stellen, um ihre Tempel und Heiligtümer darauf zu errichten. Vielleicht spüren sie, dass etwas da ist, das sie anbeten müssen.«
Oder einsperren, dachte Mogens schaudernd. Vielleicht war es ja genau anders herum. Vielleicht errichteten die Menschen ihre heiligen Plätze ganz instinktiv immer am gleichen Ort, um ihn zu versiegeln.
»Wusstest du, dass genau hier über unseren Köpfen eine anglikanische Kirche errichtet werden sollte?«, fuhr Graves fort und beantwortete seine eigene Frage gleich mit einem Nicken. »Das war natürlich, bevor man herausgefunden hat, dass all das hier im Boden versinkt. Wir sind an einem solchen heiligen Ort, Mogens. Oder glaubst du wirklich, dass es Zufall ist: Diese Höhle, der ägyptische Tempel und darunter dieses andere, ältere Heiligtum - und wer weiß, was wir hinter der Tür noch entdecken werden.«
»Was soll das?«, fragte Mogens misstrauisch. »Ist das jetzt nur ein weiterer Trick, um mich zu überreden? Die Mühe kannst du dir sparen.«
Graves drehte sich vollkommen unbeeindruckt um, machte ein paar Schritte und bedeutete Mogens mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. »Ich habe viele dieser Höhlenmalereien gesehen«, fuhr er fort. »Wahrscheinlich genug, um selbst den alten Talbot vor Neid erblassen zu lassen. Sie sind natürlich überall anders, ganz abhängig davon, welche Kultur sie erschaffen hat, und auf welchem Kontinent man sie findet. Und doch gibt es Ähnlichkeiten. Manche Symbole wiederholen sich, ganz gleich aus welcher Epoche und welcher Zivilisation der Künstler stammt, der die Bilder erschuf. Sie sind nicht leicht zu erkennen, aber wenn man weiß, worauf man zu achten hat, dann findet man sie. Und ganz besonders auf ein Symbol bin ich immer wieder gestoßen, in allen Ländern, in die ich kam. In Tempeln, in alten Schriften und auf Wandmalereien. Aber nirgends war es so deutlich wie hier.« Er hob seine Laterne, sodass ihr Lichtschein auf einen ganz bestimmten Teil der Wand fiel.