»Ich sehe es schon«, antwortete Wilson. Er hob die Schultern. »Nur ist mir nicht ganz klar, was daran so außergewöhnlich sein soll.«
»Das sind Felsmalereien«, erklärte Mogens. »Sie sind wahrscheinlich mehrere tausend Jahre alt.«
»Ich weiß, was Felszeichnungen sind«, antwortete Wilson scharf. »Wie gesagt, ich bin vielleicht nur ein dummer kleiner Sheriff vom Lande, aber sogar ich habe schon einmal von Höhlenmalereien gehört. Stellen Sie sich vor, ich habe sogar schon einmal welche gesehen. Vor ein paar Jahren, in Utah.«
Die Feindseligkeit in seiner Stimme amüsierte Mogens, aber er verzog keine Miene. »Solche ganz bestimmt noch nicht, Sheriff. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Selbst die meisten meiner Kollegen würden den Unterschied nicht bemerken - wenigstens nicht auf den ersten Blick.«
»Ich sehe ihn nicht einmal auf den dritten«, sagte Wilson.
»Aber er ist da, glauben Sie mir. Diese Malereien sind etwas ganz Besonderes. Wenn wir erst einmal so weit sind, unsere Entdeckung der Öffentlichkeit präsentieren zu können, dann müssen eine Menge Lehrbücher über die Frühgeschichte unseres Landes neu geschrieben werden.«
Wilson sah ihn zweifelnd an. »Deswegen?«
»Sie dürften gar nicht da sein«, antwortete Mogens. »Nach allem, was wir bisher über dieses Land zu wissen geglaubt haben, hat es hier noch gar keine Menschen gegeben, als diese Wandmalereien entstanden sind.« Er legte eine ganz genau bemessene Pause ein. »Verstehen Sie nun, warum Doktor Graves so sehr darauf bedacht ist, dass niemand frühzeitig von unserer Entdeckung erfährt? Das hier ist vielleicht der sensationellste archäologische Fund des Jahrhunderts!«
»Wenn Sie es sagen, Professor.« Wilson wirkte jetzt eindeutig hilflos, und Mogens musste sich beherrschen, um nicht triumphierend zu grinsen. Er hatte Wilson richtig eingeschätzt. So wenig, wie der Sheriff irgendetwas anderes als Überheblichkeit von einem Wissenschaftler wie ihm erwartete, so sehr war er nur zu bereit, jede Erklärung zu glauben, die Mogens ihm anbieten würde, so lange sie sich nur akademisch genug anhörte.
»Ich gehe ein ziemliches Risiko ein, indem ich Ihnen das hier zeige, Sheriff«, fuhr Mogens fort, »aber ich denke, ich kann Ihnen vertrauen. Wir brauchen nur noch wenige Tage, um unsere Arbeit hier abzuschließen. Schauen Sie sich ruhig um. Sehen Sie hier irgendetwas, das nach einem Erdbeben aussieht? Die größte Maschine, die wir einsetzen, ist der Generator, der unseren Strom erzeugt.«
»Doktor Steffen war der Meinung, dass Sie möglicherweise Sprengladungen benutzen, um Ihre Ausgrabungen voranzutreiben.«
»Sprengladungen?« Mogens lachte. »Kaum. Doktor Steffens Fähigkeiten als Wissenschaftler in Ehren, aber er ist Geologe, kein Archäologe. Sprengstoff ist sein Metier. Wir arbeiten hier eher mit Zahnbürste und Pinsel als mit Dynamit.«
Hinter Wilson ertönte ein leises, rhythmisches Klatschen. Mogens fuhr erschrocken herum und hob seine Lampe, und Graves klatschte noch zweimal in die Hände und trat dann vollends in den Lichtschein der Sturmlaterne.
»Bravo«, sagte er kalt. »Das war ja eine flammende Rede. Hast du jemals daran gedacht, Prediger zu werden, Mogens? Das Talent dazu hast du auf jeden Fall.«
Er klatschte noch einmal in die Hände und kam einen Schritt näher, und selbst das kalte falsche Lächeln in seinen Augen erlosch und machte blanker, kaum noch verhaltener Wut Platz. »Darf ich fragen, was du hier tust?«
»Professor VanAndt hat mich auf meinen ausdrücklichen Wunsch hierher geführt«, mischte sich Wilson ein.
Graves ignorierte ihn. »Ich habe dich gefragt, Mogens«, wiederholte er. »Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt, was die Anwesenheit von Fremden hier unten angeht.«
Mogens öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber Wilson kam ihm zuvor, indem er mit einem schnellen Schritt zwischen Graves und ihn trat. »Es ist ganz allein meine Entscheidung gewesen, hierher zu kommen, Doktor Graves«, sagte er kalt.
Graves' Blick löste sich fast widerwillig von Mogens' Gesicht und wandte sich dem Sheriff zu. Der brodelnde Zorn in seinen Augen machte einem Ausdruck fast ebenso großer Verachtung Platz. »Ich fürchte, Sie haben hier nichts zu entscheiden, Sheriff«, sagte er. »Sie befinden sich hier auf Privatbesitz. Ich dachte, ich hätte das schon erwähnt.«
Wilson zog ein eng zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hemdtasche, das er Graves hinhielt. Graves griff jedoch nicht danach, sondern starrte es nur an, als wäre es irgendetwas Ekelhaftes.
»Ich fürchte, Sie sind es, der sich im Irrtum befindet, Doktor Graves«, sagte er. »Das hier ist ein richterlicher Beschluss, der mich ermächtigt, Ihren Privatbesitz zu betreten und mich darauf umzusehen.«
Mogens war überrascht. Wenn Wilson einen Gerichtsbeschluss hatte, warum hatte er dann nichts davon gesagt?
»Ein Gerichtsbeschluss?«, vergewisserte sich Graves. Er klang überrascht; überrascht und ungläubig und auch ein wenig erschrocken zugleich, aber er rührte noch immer keinen Finger, um nach dem Blatt zu greifen, das Wilson ihm auffordernd hinhielt.
Schließlich seufzte der Sheriff und steckte es wieder ein. »Ich habe ihn noch in der vergangenen Nacht beantragt. Stellen Sie sich vor, selbst bei uns auf dem Lande gehen die Dinge manchmal schnell.«
»Vergangene Nacht?« Graves nickte anerkennend. »Steffen verliert keine Zeit. Wie viel bezahlt er Ihnen, Sheriff? Ich frage nur, weil ich unter Umständen bereit sein könnte, sein Angebot zu überbieten.«
Mogens stand noch immer halb hinter Wilson, sodass er sein Gesicht nicht erkennen konnte, aber er sah, wie Wilson heftig zusammenzuckte. »Das hat mit Doktor Steffen nicht das Geringste zu tun«, schnappte er. »Ich habe mit dem Friedensrichter gesprochen, gleich nachdem ich letzte Nacht draußen bei der Unfallstelle war und die Spuren gesehen habe.«
»Spuren?«
»Jemand hat die Leichen verschwinden lassen«, erinnerte Wilson.
»Und?«, fragte Graves. Er versuchte, gelassen zu klingen, aber ganz gelang es ihm nicht. Irgendetwas geschieht mit seinem Gesicht, dachte Mogens schaudernd. Der Ausdruck überheblicher Verachtung war nach wie vor in seinen Augen, aber darunter erwachte allmählich noch etwas anderes, düstereres, das sich lautlos und schnell in seinem gesamten Gesicht auszubreiten begann. Mogens musste sich beherrschen, um nicht erschrocken einen Schritt vor ihm zurückzuweichen. Er fragte sich, wieso Wilson es nicht sah.
»Die Leute hier reagieren empfindlich, wenn es um die Ruhe ihrer Toten geht, Doktor«, antwortete Wilson. »Seit Wochen geschehen sonderbare Dinge auf dem Friedhof. Die Leute sagen, man hört des Nachts unheimliche Geräusche, und manche meinen, seltsame Schatten gesehen zu haben. Und nun sind zwei Leichname verschwunden. Vielleicht drei.«
»Und?« Graves hob betont desinteressiert die Schultern. »Was geht mich das an? Hätten Sie die beiden Toten abtransportiert, wie es eigentlich Ihre Aufgabe gewesen wäre, statt sie wie Müll liegen zu lassen, wäre das sicherlich nicht passiert.«
Mogens hielt instinktiv den Atem an, aber zu seiner Überraschung nahm Wilson auch diese neuerliche Provokation hin, ohne darauf zu reagieren.
»Es waren keine Tiere, die sich an den Leichen zu schaffen gemacht haben«, sagte er ruhig.
»Keine Tiere?« Graves lachte gehässig. »Was denn sonst?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Wilson. »Es gibt Spuren, Doktor Graves. Spuren, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Aber es waren nicht die Spuren eines Tieres. Jedenfalls nicht die eines Tieres, das ich kenne.«