»Das letzte Mal«, antwortete Mogens. »Darauf kannst du dich verlassen.«
Er hatte mit Widerspruch gerechnet, einem neuerlichen Versuch Graves', ihn zum Bleiben zu überreden - oder ihn auch unter Druck zu setzen, je nachdem, welche Taktik ihm im Augenblick am erfolgversprechendsten erschien -, aber er tat nichts dergleichen, sondern hob nur die Schultern.
»Unglückseligerweise ist Sheriff Wilson dagegen, dass du und die entzückende Miss Preussler uns allzu schnell verlassen«, sagte er und stand auf. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht mehr versuchen, dich zu etwas zu überreden, was du nicht wirklich selbst willst.« Er wandte sich zur Tür und ging zwei Schritte, aber dann blieb er doch noch einmal stehen und drehte sich zu Mogens um. »Überleg es dir noch mal Mogens«, sagte er. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du dir tatsächlich die Gelegenheit entgehen lässt, herauszufinden, warum Janice sterben musste.«
30.
Miss Preussler hatte sich mit dem Abendessen selbst übertroffen, aber abgesehen von Tom wusste es niemand zu würdigen. Graves aß wie üblich nichts, hatte sich aber anscheinend in sein Schicksal gefügt und leistete ihnen schweigend und mit einer Tasse Kaffee Gesellschaft, während Mogens lustlos genug in seiner Portion herumstocherte, um anscheinend auch Miss Preussler selbst den Appetit auf ihr Essen zu vergällen. Sie sagte nichts, sah ihn aber so vorwurfsvoll an, dass Mogens seinen Teller nach ein paar Minuten endgültig von sich schob und sich auf ein leichtes Unwohlsein herausredete; eine Behauptung, die Miss Preussler ihm zwar bestimmt nicht glaubte, mit der sie sich aber dennoch zufrieden gab. Einzig Tom verzehrte nicht nur seine eigene Portion, sondern auch noch die Mogens', nachdem er sie ihm hingeschoben und auffordernd genickt hatte. Anders als bisher drängte Graves nicht zum sofortigen Aufbruch, kaum dass Tom den letzten Bissen heruntergeschlungen hatte, sondern beantwortete die wenig hoffnungsvolle Geste, mit der Miss Preussler die Kaffeekanne in seine Richtung schwenkte ganz im Gegenteil, indem er seine leere Tasse hob und sich nachschenken ließ.
»Was ist los mit Ihnen, Doktor?«, fragte Miss Preussler in dem schwachen Versuch, die angespannte Stimmung aufzulockern. »Sagen Sie nicht, dass Sie heute Morgen aufgewacht sind und wie durch ein Wunder von Ihrer krankhaften Arbeitswut geheilt waren?«
»Ganz im Gegenteil, Miss Preussler«, antwortete Graves, während er an seinem Kaffee nippte. »Ich fürchte, Tom und ich haben eine lange Nacht vor uns. Wir können mit unserer Arbeit aus bestimmten Gründen erst gegen Mitternacht anfangen, aber ich fürchte, sie wird wohl auch bis in die frühen Morgenstunden andauern.«
»Das ist äußerst unvernünftig, Doktor Graves«, beschied ihn Miss Preussler. »Wissen Sie denn nicht, dass der Schlaf vor Mitternacht der allerwichtigste ist?« Sie schüttelte missbilligend den Kopf und stutzte dann plötzlich. »Thomas und Sie?«
»Professor VanAndt hat sich entschlossen, nicht weiter an unserer Arbeit teilzunehmen«, sagte Graves.
Miss Preussler warf einen überraschten Blick in Mogens' Richtung. »Ist das wahr?«
»Ich reise morgen ab«, bestätigte Mogens. »Sobald Sheriff Wilson es zulässt, heißt das.«
»Oh«, machte Miss Preussler. Aus einem Grund, den Mogens nicht nachvollziehen konnte, wirkte sie enttäuscht. »Und dazu haben Sie sich so plötzlich entschieden?«
»Es gibt für mich hier nichts mehr zu tun«, antwortete Mogens. Er sah Graves bei diesen Worten an, nicht sie, aber in dessen Gesicht regte sich kein Muskel.
»Ich nehme doch an, dass Sie mich begleiten«, fuhr er - nunmehr direkt an Miss Preussler gewandt - fort.
»Na...natürlich«, antwortete sie stockend. »Es kommt ein wenig überraschend, aber ich... ich habe kein Problem damit.« Seltsam, dachte Mogens. Sie klang so, als hätte sie durchaus ein Problem damit. Ein ziemlich großes sogar.
»Tom kann Professor VanAndt und Sie zum Bahnhof in San Francisco fahren«, sagte Graves, hob aber gleichzeitig auch abwehrend die Hand. »Keine Sorge - ich regele das mit Sheriff Wilson.« Er nippte an seinem Kaffee und warf Mogens einen raschen, undeutbaren Blick zu, ehe er sich wieder an sie wandte und fortfuhr: »Ich hoffe doch, Sie haben bis dahin Ihre Katze wieder gefunden.«
Miss Preussler machte ein betrübtes Gesicht. »Ja, allmählich beginne ich mir ernsthafte Sorgen um Cleopatra zu machen«, sagte sie. »Sie ist noch niemals so lange weggeblieben. Aber natürlich ist hier auch alles neu und fremd für sie, und sie hat eine Menge zu entdecken.«
»Vielleicht sollten Sie eine Schale mit Milch vor die Tür stellen«, schlug Graves vor. Er nippte wieder an seinem Kaffee, wobei er Mogens über den Rand der emaillierten Tasse hinweg fast spöttisch musterte.
»Ja, das sollte ich vielleicht tun«, sagte Miss Preussler.
Mogens stand mit einer so abrupten Bewegung auf, dass Miss Preussler ihn regelrecht erschrocken ansah. »Wo wollen Sie hin, Professor?«, fragte sie.
»Raus«, schnappte Mogens. »Cleopatra suchen.«
31.
Er träumte. Anders als in einem normalen Traum war ihm vollkommen klar, dass er träumte, und als wäre das allein noch nicht sonderbar genug, war er sich sogar über die Ursachen dieses bizarren Nachtmahrs im Klaren. Niemand anderes als Graves war dafür verantwortlich, indem er mit seiner abschließenden Frage die Erinnerung nicht nur an die schrecklichsten Augenblicke seines Lebens wachgerufen hatte, sondern auch und vor allem die an Janice. So war es nicht weiter verwunderlich, dass er sich in seinem Traum zwar im Bett liegend in seiner Hütte wieder fand, komplett angezogen und sogar noch mit seinen Schuhen an den Füßen, so wie er sich darauf ausgestreckt hatte, aber nicht mehr allein war. Janice stand am Fußende seines Bettes, Janice mit ihrem wallenden roten Haar, ihren melancholischen Augen und den zerbrechlichen Zügen. Sie trug sogar noch dasselbe dunkelrote Kleid wie in jener schicksalhaften Nacht, und Mogens glaubte einen sachten Brandgeruch wahrzunehmen, und dazu noch etwas Anderes, Unangenehmeres, ein leicht fauliges Aroma, so schwach, dass es fast mehr zu erahnen als wirklich zu spüren war.
Ein Teil von ihm reagierte mit schierer Panik auf Janices Anblick, aber ein anderer und - zumindest im Moment noch - weitaus stärkerer Teil seines Bewusstseins analysierte das unheimliche Trugbild mit einer Mischung aus rein wissenschaftlichem Interesse und einer Art amüsierter Anerkennung, die der Präzision seiner eigenen Vorstellungskraft galt. Janice trug das rote Kleid, in dem er sie das allerletzte Mal gesehen hatte, so wie es sie in seiner Vorstellung immer trug; die Erinnerung an Janice war so unverrückbar mit der an dieses rote Kleid verbunden, dass er sie stets darin sah, wenn er an ihre gemeinsame Zeit zurückdachte. Auch ihre Frisur war dieselbe, eine gepflegte, zugleich aber ungezügelte rote Mähne, die bis weit über ihre Schultern hinabfiel und selbst dann noch irgendwie renitent wirkte, wenn sie gerade vom Friseur kam. Ihre gesamte Erscheinung strahlte eine Mischung aus Anmut und einer Kraft aus, die in krassem Gegensatz zu ihrer grazilen Gestalt und der weichen Stimme stand. Natürlich war sich Mogens darüber im Klaren, dass dieses Bild von Janice idealisiert war und nicht der Wahrheit entsprach. Dennoch konnte man seinem Unterbewusstsein nicht vorwerfen, dass es fantasielos gewesen wäre, oder die Tatsache, dass es die Janice-Erinnerung stets auf die gleiche Weise kleidete, auf reine Bequemlichkeit zurückzuführen wäre. Es war Janice, aber es war nicht genau die Janice von vor neun Jahren. Das knappe Jahrzehnt, das seit jener furchtbaren Nacht verstrichen war, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen; sie war eindeutig älter geworden und auf eine frauliche Art sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.