Ganz gleich, wie dieses Ende aussah.
32.
Anders als in der vergangenen Nacht war der Generator ausgeschaltet, und somit herrschte unten im Gang, als Mogens die Leiter hinunterstieg und sich auf den Weg zu Graves und Tom machte, pechschwarze Dunkelheit. So unheimlich ihm das Arbeitsgeräusch des Generators auch gewesen war, so sehr vermisste er es jetzt beinahe, denn die Stille, die ihn empfing, war beinahe noch bedrückender. Es schien nicht nur die reine Abwesenheit von Geräuschen zu sein. An ihre Stelle war etwas anderes getreten; etwas Fremdes, das nicht hierher gehörte und sich wie eine würgende Decke über das Hier und Jetzt legte und jeden Laut erstickte. Selbst seine Schritte schienen nicht mehr das allermindeste Geräusch zu verursachen. Wäre nicht am Ende des Tunnels ein blasses, flackerndes Licht gewesen, so hätte Mogens wohl spätestens jetzt der Mut verlassen, und er wäre auf der Stelle umgekehrt.
Zu seiner Enttäuschung war die große Höhle leer. Von Graves und Tom war keine Spur zu entdecken, und auch die drei großen Kisten waren verschwunden. Auf dem Tisch stand eine einsame Petroleumlampe, deren Licht das sie umgebende Durcheinander aus Papieren, Werkzeugen und Fundstücken in eine bizarre Skulptur aus schrägen Linien und Schatten verwandelte.
Immerhin gab es ein zweites Licht, das ihm den Weg wies. Mogens war nicht überrascht, aber ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er sah, dass es aus dem zur Tempelkammer führenden Gang kam. Der einzige Grund, aus dem er weiterging, war vermutlich, dass umzukehren ihn mehr Mut gekostet hätte, als seinen Weg fortzusetzen.
Auch die Lampen im Hieroglyphengang brannten nicht, aber der Raum an seinem anderen Ende war hell genug erleuchtet, sodass er zumindest nicht Gefahr lief, zu stolpern oder sich auf andere Weise an den Wänden zu verletzen. Und auf halbem Wege hörte er auch endlich wieder Stimmen. Ganz zweifelsfrei kamen sie von Tom und Graves, dennoch hatte Mogens im ersten Moment Mühe, sie zu identifizieren. Die sonderbare Stille, die ihn hier unten empfangen hatte, war noch immer da, nur nicht mehr so allumfassend wie zuvor; sie verschlang nun nicht mehr jegliches Geräusch, sondern schien nur noch gewisse Frequenzen zu überdecken, sodass sich Graves' Stimme sonderbar dumpf und verzerrt anhörte, als befände er sich unter Wasser.
Mogens schob auch diesen bizarren Eindruck auf seine eigene Nervosität und beschleunigte seine Schritte - mit dem Ergebnis, dass er die nur halb geöffnete Gittertür am Ende des Ganges übersah und unsanft dagegen prallte. Tom, der mit dem Rücken zum Eingang dagestanden hatte, fuhr alarmiert herum und sah für einen Moment regelrecht entsetzt aus, zumindest aber sehr erschrocken. Graves hingegen drehte sich betont gelassen zu ihm um und sah ihn gute fünf Sekunden lang eindeutig zufrieden an. Dann griff er mit einer schon übertrieben langsamen Bewegung in die Westentasche, zog seine Uhr hervor und klappte den Deckel auf. Mogens hatte das sichere Gefühl, dass diese Geste vollkommen überflüssig war. Graves wusste auf die Minute genau, wie spät es war.
Er wandte sich auch nicht an ihn, als er sprach, sondern an Tom. »Ich habe gewonnen, Tom«, sagte er fröhlich. »Du schuldest mir einen Dollar.«
»Gewonnen?«, wiederholte Mogens fragend.
Graves ließ den Deckel seiner kostbaren goldenen Taschenuhr mit einem übertrieben heftigen Geräusch zuklappen, das mehrfach gebrochen und verzerrt von den Wänden widerhallte und dabei zu etwas anderem zu werden schien. »Tom und ich haben gewettet«, sagte er. »Er hat einen Dollar daraufgesetzt, dass du entweder gar nicht oder erst nach Mitternacht kommst. Ich hingegen habe zwanzig Dollar darauf gewettet, dass du spätestens um elf hier bist.« Er wiegte den Kopf. »Es war knapp. Acht Minuten später, und du wärst mich teuer zu stehen gekommen, Mogens.«
»Das hättest du mir sagen sollen, Tom«, sagte Mogens. »Um Doktor Graves zu schädigen, hätte ich selbst die Gesellschaft von Miss Preussler noch für zehn Minuten ertragen.«
»Ich wusste nicht, dass du mich so sehr hasst, Mogens«, seufzte Graves. Er steckte seine Uhr ein. »Es ist schlimm, wenn die Domestiken anfangen, sich zu verbünden.«
»Vor allem, wenn sie Grund dazu haben«, sagte Mogens. Er drehte sich zu Tom um. »Den Dollar kriegst du selbstverständlich von mir zurück, Tom.«
Graves verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und wurde dann übergangslos ernst. »Ich freue mich, dass du doch noch gekommen bist. Um ehrlich zu sein, war ich mir dessen gar nicht so sicher.«
Das war gelogen. Graves hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass er kommen würde. Er hatte es gewusst. Mogens verzichtete allerdings darauf, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Stattdessen trat er endgültig in den Raum hinein und sah sich dabei ein zweites Mal und aufmerksamer um.
Wie überall war auch hier das elektrische Licht ausgeschaltet, doch Tom und Graves hatten mindestens ein halbes Dutzend Öl- und Petroleumlampen aufgestellt, die die Tempelkammer mehr als ausreichend beleuchteten, sie zugleich aber in etwas anderes zu verwandeln schienen, von dem Mogens noch nicht zu sagen wusste, ob es ihm gefiel. Das warme Licht schien alle Kanten zu glätten und die Umrisse der Dinge nahezu aufzulösen, sodass aus vertrauten Formen Unvertrautes wurde, die spitzen Zähne der Anubis-Statuen und der schreckliche Horus-Schnabel aber zugleich auch etwas von ihrer Bedrohlichkeit einbüßten.
Darüber hinaus gab es aber auch noch weitere Veränderungen. Die drei sargähnlichen Kisten, die Mogens draußen vermisst hatte, standen nun hier. Die Deckel von zweien waren aufgeklappt, und zwischen ihnen spannte sich ein auf den ersten Blick sinnloses Gewirr aus Seilen, Knoten und mechanischen Umlenkrollen. Mogens' Blick folgte einem der dickeren Seile. Es führte über eine Art komplizierten Flaschenzug zur Decke hinauf, wo mehrere aus fast daumendicken Seilen geflochtene, weitmaschige Netze aufgehängt waren.
»Ihr wart nicht untätig«, sagte er anerkennend, musste aber zugleich auch ein heftiges Gefühl von Ärger unterdrücken, als er daran dachte, dass Graves Stahlnägel in eine mit fünftausend Jahren alten Fresken geschmückte Decke getrieben hatte.
Großer Gott, der Mann war Wissenschaftler! Wusste er denn nicht, welchen Schaden er anrichtete?
»Das größere Lob gebührt Tom«, antwortete Graves. »Eigentlich hat er die ganze Arbeit gemacht. Ich habe ihm nur gesagt, was er tun soll.«
»Ja«, murmelte Mogens. »Das habe ich mir gedacht.«
Graves legte für einen Moment den Kopf auf die Seite und sah ihn aus eng zusammengekniffenen Augen an, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass du dich entschieden hast, uns zu helfen... Du willst uns doch helfen, nehme ich an?«
»Nein«, antwortete Mogens grob. »Das will ich nicht. Ich will nicht einmal hier sein.«
»Das kann ich gut verstehen«, behauptete Graves ernst. »Aber glaub mir, du hast dich richtig entschieden. Wenn wir Erfolg haben, dann wirst du in kurzer Zeit nicht nur vollständig rehabilitiert sein, sondern wir wissen auch, was mit Janice und den anderen geschehen ist. Und vielleicht werden sie dann die Letzten gewesen sein, die ein so schreckliches Schicksal erleiden mussten.«
»Wenn wir Erfolg haben«, sagte Mogens mit belegter Stimme. Er starrte die Netze unter der Decke an.
»Du zweifelst daran?« Die Vorstellung schien Graves zu amüsieren. Er zog sein Zigarettenetui aus der Jacke und klappte es auf, steckte es dann aber unverrichteter Dinge wieder ein, ohne sich bedient zu haben, nachdem Tom ihm einen erschrockenen Blick zugeworfen hatte. »Verzeihung«, murmelte er. »Ich vergaß.« Mogens blickte fragend, und Graves fügte hinzu: »Die Ghoule haben einen sehr hoch entwickelten Geruchssinn.«