»Ghoule?«
»Irgendwie muss man sie nennen, oder?« Graves hob abermals Schultern. »Es ist auf die Dauer ein wenig lästig, immer von Kreaturen oder Wesen und Geschöpfen zu reden.« Er zog sein Etui schon wieder aus der Tasche, bedachte es mit einem langen, fast wehmütigen Blick und steckte es schließlich endgültig weg. »Sind alle Vorbereitungen getroffen?«, wandte er sich an Tom.
»Ja«, antwortete Tom, schüttelte absurderweise aber zugleich auch den Kopf. »Aber ich will zur Vorsicht noch mal den Alarmdraht überprüfen.«
Graves sah ihm kopfschüttelnd nach, als er hinter der Totenbarke verschwand. »Ein guter Junge«, sagte er. »Manchmal wüsste ich gar nicht mehr, was ich ohne ihn tun sollte. Habe ich dir erzählt, dass er mir das Leben gerettet hat?«
Mogens war nicht ganz sicher, aber er nickte trotzdem. Dieses Eingeständnis überraschte ihn kein bisschen. Er wusste jetzt noch viel weniger als am ersten Tag, was er von Tom zu halten hatte, aber er hätte diesem Jungen dennoch blindlings sein Leben anvertraut. Außerdem meldete sich sein schlechtes Gewissen, wie jedes Mal, wenn er an Tom dachte oder ihn sah. Der ungeheuerliche Verdacht, in dem er ihn gehabt hatte, machte ihm zu schaffen. Dass Tom es offensichtlich ein wenig an der gebotenen Ordnung und Hygiene mangelte, war betrüblich, gab ihm aber noch lange nicht das Recht, vorschnell über ihn zu urteilen. Da Mogens selbst ein Opfer ungerechter Verurteilung geworden war, reagierte er in diesem Punkt schon fast übersensibel.
Graves sah - diesmal länger - auf die Uhr. Er wirkte ein wenig besorgt, fand Mogens, und er sagte es auch. Graves schüttelte jedoch nur den Kopf, klappte den Uhrdeckel deutlich leiser als beim ersten Mal zu und sah aus schmalen Augen in die Richtung, in die Tom verschwunden war. »Sie kommen meistens gegen Mitternacht«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, dass es mit der Stellung des Mondes zu tun hat.«
»Nicht der des Sirius?« Mogens bedauerte die Frage, noch bevor er sie ganz ausgesprochen hatte, aber er konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen.
Ausnahmsweise erwies sich Graves diesmal als der Vernünftigere von ihnen, denn er beließ es bei einem bösen Blick, statt irgendetwas darauf zu erwidern und so den Streit aufzunehmen, den Mogens völlig grundlos vom Zaun gebrochen hatte.
»Verzeihung«, murmelte Mogens.
»Schon gut.« Graves winkte ab. Der schwarze Handschuh, in dem seine Finger steckten, bewegte sich dabei auf eine unheimliche Weise, die Mogens an die grässliche Art denken ließ, auf die Janices Hände auseinander gefallen waren. Er sah rasch weg und schluckte den bitteren Kloß herunter, der sich in seinem Hals bilden wollte.
»Du bist nervös«, fuhr Graves fort. »Das bin ich auch, glaub mir.«
Seine demonstrative Großmut ärgerte Mogens schon wieder, aber diesmal hatte er sich gut genug in der Gewalt, um die Bemerkung herunterzuschlucken, die ihm auf der Zunge lag.
Etwas geschah mit dem Licht. Wo vorher goldbraune Helligkeit geherrscht hatte, breiteten sich nun Schatten aus.
»Ich habe Tom gesagt, er soll die Lampen löschen«, sagte Graves, dem Mogens' fast unmerkliches Zusammenzucken nicht verborgen blieb. »Sie reagieren auf Licht. Ich glaube, es bereitet ihnen Schmerzen. Ihre Augen sind sehr empfindlich.«
Eine weitere Laterne erlosch, dann noch eine und schließlich die vorletzte. Die Dunkelheit schien wie eine Woge aus kompakter Schwärze über ihnen zusammenzuschlagen, und Mogens glaubte regelrecht zu sehen, wie selbst der Lichtschein der letzten Laterne, die unmittelbar vor Graves' Füßen stand, unter dem Anprall der Düsternis ein Stück zurückwich. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er den gedrungenen Schatten sah, der sich vor ihnen aus der Dunkelheit schälte. Obwohl er genau wusste, dass es niemand anderes als Tom war, glaubte er für einen kurzen Moment spitze Fuchsohren zu erkennen, blitzende Fänge und rot glühende Augen, die ihn gierig anstarrten. Aber es war auch diesmal wieder nur seine eigene Fantasie, die ihm einen bösen Streich spielte. Dennoch hämmerte sein Herz wie verrückt, als er Graves folgte, der die Laterne aufnahm und sich damit hinter den Schutz eines mächtigen Sandsteinquaders zurückzog, der vielleicht einmal der Sockel einer längst verschwundenen Statue gewesen war. Plötzlich war er fast froh über die Dunkelheit, die das Zittern seiner Hände verbarg. Der bittere Geschmack der Furcht begann sich in seinem Mund auszubreiten.
Er fragte sich, ob er der richtige Mann für diese Aktion war. Tom gesellte sich zu ihnen und huschte im nächsten Moment wieder davon, um hinter einem anderen Steinblock Deckung zu nehmen, nachdem Graves ihm einen entsprechenden Wink gab, und es war Tom, ganz zweifelsfrei - wer sollte es denn auch sonst gewesen sein, fragte die spöttische Stimme seiner Vernunft in Mogens' Gedanken -, aber er hatte trotzdem immer mehr Mühe, sich der Vorstellung zu erwehren, dass sich sein Gesicht plötzlich auf grässliche Weise zu verändern begann, spitzer und länger wurde und eine sabbernde Hundeschnauze voller schrecklicher Fänge bildete, wie seine Fingerspitzen aufplatzten und sich mörderische Klauen daraus hervorschoben und spitze Ohren und borstiges Fell aus seinem Schädel herauswuchsen. Und es war nur seine Fantasie, die ihm so zu schaffen machte - was mochte geschehen, wenn er erst einmal wirklich einer dieser Bestien gegenüberstand?
»Hast du eine Waffe bei dir?«, fragte er.
»Wozu?« Graves schüttelte den Kopf. »Wir wollen einen Ghoul lebend fangen.«
»Deinen wissenschaftlichen Ehrgeiz in Ehren«, sagte Mogens, »aber es könnte sein, dass er nicht damit einverstanden ist.«
Graves deutete mit einer Kopfbewegung zur Decke hoch. »Diese Netze stammen von einem Ausrüster, der normalerweise Großwildjäger in Afrika beliefert. Sie sind stark genug, um einen wütenden Gorilla zu bändigen.«
»Und wenn sie stärker sind als ein wütender Gorilla?«
»Dann haben wir ein Problem«, antwortete Graves lächelnd. Aber er schüttelte auch gleich darauf beruhigend den Kopf. »Keine Sorge, Mogens. Ich habe einige Erfahrung mit diesen Kreaturen. Sie sind Aasfresser, keine Beutejäger.«
»Das sind Hyänen auch. Dennoch sind sie gefährlich.«
»Sie sind normalerweise nicht aggressiv«, beharrte Graves. »Das Überleben ihrer Art hängt davon ab, dass niemand von ihrer Existenz weiß.«
Mogens widersprach nicht, aber er sah so bezeichnend zu Tom hinüber, dass Graves sich offensichtlich zu einer Erklärung genötigt fühlte. »Sein Vater hat sie angegriffen. Vergiss das nicht. Selbst das friedlichste Tier wehrt sich, wenn man es angreift.«
»Und seine Mutter?« Mogens sprach bewusst leise, damit Tom seine Worte nicht verstand, aber ganz schien es ihm nicht gelungen zu sein, denn Tom wandte den Kopf in seine Richtung und sah ihn aus Augen an, die plötzlich dunkel vor Schmerz und Zorn wurden. Gerade hatte Mogens überlegt, ob er der richtige Mann für diese Aktion war. Vielleicht sollte er diesen Gedanken relativieren. Möglicherweise sollte die Frage lauten: Waren sie die Richtigen? Vielleicht hatte der Umstand, dass sie ohne Waffen hergekommen waren, ja einen ganz anderen Grund, als Graves behauptete.
Graves beantwortete seine Frage erst mit einiger Verspätung, und auch nicht wirklich überzeugt: »Vielleicht wollten sie nur ihr Revier verteidigen.«
»Und Janice?«, fragte Mogens bitter. »Mussten sie gegen Janice auch nur ihr Revier verteidigen?«
Graves wand sich einen Moment, bevor er sich in ein trotziges Schulterzucken rettete. »Um genau diese Fragen zu beantworten, sind wir hier. Und jetzt sollten wir besser schweigen, um sie nicht schon zu verscheuchen, bevor sie überhaupt gekommen sind.«