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Das war nicht der Grund, aus dem er Mogens zum Schweigen aufforderte. Er wollte nicht weiter über dieses Thema reden, begriff Mogens, vielleicht, weil er weniger darüber wusste, als er ihm gegenüber den Anschein zu erwecken versuchte. Vielleicht auch, weil er mehr darüber wusste.

Graves streckte die Hand nach seiner Laterne aus und drehte den Docht herunter, und das Licht zog sich unter dem Ansturm der Dunkelheit weiter zurück, bis es zu einem blassgelben düsteren Schimmer geworden war, der kaum noch Helligkeit spendete, die Dunkelheit an ihrem Rand aber noch zu betonen schien. Dahinter kroch die Furcht heran.

Graves hob die Hand, um Tom einen Wink zu geben. Es war zu dunkel, als dass Mogens erkennen konnte, was genau Tom tat, aber nur einen Moment später begann sich eines der Seile zu spannen und Mogens glaubte ein helles, rhythmisches Quietschen zu hören. Der Deckel der letzten, bisher verschlossenen Kiste schwang auf. Ein sonderbarer, leicht süßlicher Geruch stieg Mogens in die Nase, fremd und auf unangenehme Weise zugleich vertraut, aber es dauerte noch einen Moment, bis Mogens ihn wirklich erkannte. Ungläubig und entsetzt zugleich sog er die Luft ein.

»Das ist...«

»Was hast du erwartet?«, fiel ihm Graves ins Wort, leise, aber in einem fauchenden Ton, der an das Zischen einer angreifenden Schlange erinnerte, kurz bevor sie zuschlug. »Dass wir sie mit den sterblichen Überresten von Miss Preusslers Katze anlocken?« Er schüttelte zornig den Kopf. »Diese Kreaturen ernähren sich von Menschenfleisch, Mogens!«

»Aber du... du...« Mogens begann zu stammeln und brach schließlich ab. Was hätte er sagen sollen, das Graves nicht mit einer einzigen hämischen Bemerkung entkräften konnte? Und das mit Recht. Graves hatte ihn nicht ein einziges Mal belogen. Ganz im Gegenteiclass="underline" Der Einzige, der stets und beharrlich die Augen vor der Realität verschlossen hatte, war er.

Und irgendwie tat er das sogar jetzt noch, denn das Schlimmste war noch nicht vorbei, obwohl er es hätte wissen müssen. Er wusste es. Graves hatte es ihm ja gesagt. Er hatte es einfach nicht wissen wollen.

Mogens starrte Graves noch einige Sekunden lang fassungslos an. Der süßliche Verwesungsgeruch wurde stärker, und Mogens schob sich mit klopfendem Herzen über den Rand ihrer Deckung und strengte sich an, um einen Blick ins Innere der Kiste zu werfen. So schwach das Licht war, hatten sich seine Augen doch mittlerweile weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, um ihn zumindest einige Schritte weit sehen zu lassen. Aber beinahe bedauerte er, dass es so war.

Hyams sah gar nicht aus, wie er sich eine Tote vorgestellt hatte. Vielmehr schien sie zu schlafen. An ihrem Hals befand sich eine klaffende Wunde, und ihre ehemals weiße Bluse hatte sich fast zur Gänze dunkel gefärbt, aber Graves war zumindest pietätvoll genug gewesen, ihr Gesicht zu säubern und ihre Augen zu schließen.

»Das ist... Hyams«, stammelte Mogens. »Großer Gott, Jonathan, du... du hast Doktor Hyams...?«

»Ich habe dir gesagt, dass wir einen Köder brauchen«, antwortete Graves kalt.

»Aber Hyams!«, ächzte Mogens. »Um Gottes willen, Graves, was hast du getan?«

»Ich habe gar nichts getan«, antwortete Graves scharf und bedeutete Mogens gleichzeitig mit einem ärgerlichen Wink, sich wieder zu setzen und nicht so laut zu sein. »Doktor Hyams ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, hast du das schon vergessen?«

»Aber du... du kannst sie doch nicht...«, stammelte Mogens. »Ich meine... um Himmels willen, Jonathan! Du... du hast fast ein Jahr mit dieser Frau zusammengearbeitet! Du hast sie gekannt! Du kannst sie doch nicht... nicht einfach als Köder benutzen!«

»Ich bin sicher, Doktor Hyams hätte nichts dagegen«, antwortete Graves ungerührt. »Was kann sich jemand wie sie mehr wünschen, als selbst nach dem Tod noch der Wissenschaft zu dienen?« Er lachte böse. »Was hast du geglaubt, wer in diesem Sarg liegt? Cleopatra?«

»Aber... aber ich dachte... nachdem Sheriff Wilson von den Grabschändungen erzählt hatte...«

»Oh, ich verstehe«, unterbrach ihn Graves hämisch. »Du hast geglaubt, dass Tom und ich uns des Nachts heimlich auf den Friedhof geschlichen und die Leiche irgendeines armen Tropfes ausgebuddelt haben.« Graves schüttelte heftig den Kopf. »Würdest du dich dabei wohler fühlen?«

»Verdammt noch mal, ja!«, brüllte Mogens.

Graves fuhr heftig zusammen und wurde eine Spur blasser, was aber vermutlich eher an der Lautstärke von Mogens' Worten lag.

»Ich bitte Sie, Professor, mäßigen Sie Ihren Ton«, sagte er ironisch. »Nicht so laut!«

»Es wäre ein Unterschied«, wiederholte Mogens. »Und das weißt du verdammt genau, du Monster.« Aber er sprach tatsächlich leiser.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte Graves.

Mogens starrte ihn an. Er schwieg.

»Wie gesagt: Wir sind alle nervös, und ich nehme dir diese Entgleisung nicht übel. Aber zweimal ist genug. Wenn das alles hier zu viel ist für dich, verstehe ich das. Du kannst gehen, wenn du es wünschst. Ich werde es dir nicht übel nehmen. Aber wenn du bleibst, dann verbitte ich mir weitere derartige Auftritte. Haben wir uns verstanden?«

Graves starrte ihn an. Mogens starrte zurück, aber am Ausgang dieses stummen Duells bestand kein Zweifel, so wie an keinem der Kämpfe, die sie bisher ausgefochten hatten. Als er in den Zug nach San Francisco gestiegen war, war er zugleich in einen Krieg gezogen, den er schon verloren hatte, noch bevor der erste Schuss gefallen war. Graves hatte sich nicht einmal anstrengen müssen, um ihn zu gewinnen. Er hatte einfach gesiegt, weil er da war.

Und so war es schließlich auch diesmal Mogens, der den Blick senkte und stumm nickte.

»Also gut«, sagte Graves. »Und jetzt sollten wir wirklich schweigen. Ich habe das Gefühl, dass es nun nicht mehr lange dauert.«

Zumindest in diesem Punkt sollte er sich täuschen. Möglicherweise verging wirklich nicht mehr allzu viel Zeit, doch selbst eine kurze Zeit konnte zu einer schieren Ewigkeit werden, und so dehnten sich die Sekunden zu Stunden, und die Minuten zu Unendlichkeiten. Mindestens ein Dutzend Mal glaubte er Geräusche zu hören, und mindestens ebenso oft gaukelten ihm seine Augen verkrüppelt-humpelnde Bewegung in den Schatten dazu vor, doch jedes Mal stellte es sich nur als Trugbild heraus.

Und dann hörte das Schlurfen und Schleichen plötzlich nicht mehr auf, und der Schatten, der fuchsohrig und humpelnd aus der Dunkelheit vor ihm auftauchte, war kein weiterer Albdruck.

Der Ghoul war da.

Mogens hatte das Gefühl, lautlos und schnell von innen heraus zu Eis zu erstarren. Er hatte geglaubt, sich hinlänglich gegen diesen Moment gewappnet zu haben, aber auch das gehörte anscheinend zu der Kette aufeinander aufbauender und einander verschlimmernder Irrtümer, aus denen sein Leben bestand, seit er diesen verfluchten Ort betreten hatte. Es war nicht das erste Mal seit jener furchtbaren Nacht in Harvard, dass er wieder einem dieser Ungeheuer gegenüberstand, doch Mogens begriff erst jetzt wirklich, dass es Dinge gab, auf die man sich nicht vorbereiten konnte, ganz egal, wie sehr man es auch versuchte.

Graves hatte sich geirrt: Der Schatten vor ihm war das Ding, das Janice geholt hatte, sein ganz persönlicher Dämon, von der Hölle zu keinem anderen Zweck erschaffen und ausgespien, als ihn zu verderben. Es hatte nichts damit zu tun, dass er sich zu wichtig nahm, denn ganz genau das war das Wesen der Hölle: Dass sie nichts belanglos tat oder nebenbei, sondern jedes einzelne ihrer Opfer mit all ihrer Macht und ihrer gesamten Bosheit zu verfolgen trachtete.

»Keinen Laut mehr jetzt!«, zischte Graves. Mogens löste seinen Blick nicht für eine Sekunde von dem gedrungenen Schatten, aber er konnte spüren, wie Graves sich neben ihm anspannte. Gleich darauf hob er die Hand, um Tom einen verstohlenen Wink zu geben. Mogens' Herz schlug schneller, während er den Schatten beobachtete, der allmählich näher kam, aber das Blut, das immer schneller und schneller durch seine Adern pumpte, schien nun aus Eiswasser zu bestehen, in dem rasiermesserscharfe Schollen schwammen.