Die Standuhr und das Grammophon will der Hausmeister haben, ist zwar nur Plunder, sagt er, aber man weiß ja nie.
Die beiden Frauen spuken April noch lange im Kopf herum. Sie malt sich aus, wie sie in den Zwanzigerjahren gelebt haben, stellt sich Künstler und Dichter vor, Charleston, Opiumhöhlen, Künstlerinnen mit Zigarettenspitzen im Mundwinkel, träumt sich selbst in die Salons hinein, sieht sich als Dichterin in dieser Runde, eine zweite Else Lasker-Schüler. In ihrer Traumwelt gesteht sie sich zu, eine Dichterin zu sein. Diese Epoche übt eine starke Anziehung auf sie aus, Wahnsinn und Dichtung so nah beieinander, der Wahnsinn, so scheint es, Voraussetzung für die Kunst. Doch in Wirklichkeit sind ihr die eigenen Verrücktheiten nur hinderlich beim Schreiben, verstellen klare Gedanken, verbergen die Worte hinter einem Vorhang aus verbrauchten Metaphern.
Endlich hat sie eine Wohnung aufgetrieben, keine Bruchbude, sondern eine Vierzimmerwohnung mit Badewanne und einem kupfernen Badeofen. April hat sie bei einem ihrer Streifzüge offen vorgefunden und sofort gehandelt. Ein Tischlerlehrling aus dem Museum baut ihr im Tausch gegen die aktuelle Renft-LP ein neues Schloss ein. Kurz darauf transportieren Hans und sein Bruder die Möbel aus der Haushaltsauflösung in die Wohnung. April befestigt ein Schild mit ihrem Namen an der Tür. Der Name von Hans wird vorerst fehlen, denn ihn könnten sie wegen eines Schwarzeinzugs exmatrikulieren. Dieses» sie «kommt April vor wie eine schillernde Blase, die aus stetig wechselnden Teilchen besteht: Stasi, Polizei, Müllmänner, Kellner, Arbeitskollegen, Hausmeister; man weiß nie genau, mit wem man es zu tun hat.»Sie «denunzieren aus den verstiegensten Gründen, und das» sie «ist in Gedanken allgegenwärtig: Pass auf, dass» sie «dich deswegen nicht am Arsch haben. Deswegen? Sie haben einen doch längst am Arsch.
Als April in ihrem Zimmer die Sachen zusammenpackt, hört sie Fräulein Jungnickel auf dem Flur laut mit dem Vogel reden. Dabei klingt die Alte schon selbst wie ein Vogel. Von Dest ist die Rede, vom schmutzigen Flittchen. April versucht, nicht hinzuhören, aber als sie sich in der Küche die Haare wäscht und das Gezeter im Nacken spürt, wird sie wütend. Mit einem Ruck packt sie die Waschschüssel und leert das Wasser über den Kopf der Alten aus. Nach einem lauten Schrei verstummt das Fräulein. Eine Weile ist nur das Geräusch der platzenden Wassertropfen auf dem schwarzen Linoleum zu hören. Sie tauschen Blicke voller Verachtung, Anlass genug für eine handfeste Schlägerei. Doch dann muss April über sich selbst lachen, sie kann es nicht fassen, wie dämlich und schafsköpfig sie sich benimmt. Und das Unfassbare geschieht: Fräulein Jungnickel stimmt wiehernd in ihr Lachen ein, und plötzlich kommt sie April klein und zerbrechlich vor.
Im Museum ist die Heizung defekt, außer in der Kantine herrscht überall Eiseskälte. Sie sitzt mit ihren Kollegen am Frühstückstisch, eine bunt gemischte Gesellschaft, Männer in Schlosserhosen, Frauen in weißen Kitteln rauchen und reden. Wie soll es denn heißen, fragt eine junge Frau und deutet auf Aprils Bauch.
Ich hab keine Ahnung, sagt sie und verschweigt, dass es ihr egal ist. Ein Name, was ist schon ein Name?
Während die anderen darüber diskutieren, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, und die Anzeichen dafür deuten, hört sie nur halb zu, ihre Gedanken kreisen um die Tüte Sauerkraut, die sie sich nachmittags im Gemüseladen kaufen möchte.
Die neue Wohnung erweist sich als Kühlhaus. Eisige Nordwinde umarmen das Mauerwerk, mit dem Heizen kommt sie kaum nach. Im Flur regnet es durch die Decke, das Klacken der Wassertropfen begleitet sie beim Einschlafen. In der Frühe muss Hans mit ihr die volle Blechwanne ausleeren. Und doch hat sie Freude daran, die Wohnung einzurichten. Das Küchenbuffet streicht sie blau, im Schlafzimmer klebt sie gepresste bunte Herbstblätter an die Wände, ein Kinderkörbchen steht vor dem Bett, die Tasche mit den Babysachen daneben. Abends sitzt sie mit Hans am Tisch, und beim Essen reden sie über Gott und die Welt. April hängt an seinen Lippen, ist aufnahmebereit wie ein Schwamm.
Manchmal gibt er ihr einen zärtlichen Nasenstüber wie ihr Vater früher, und dann wünscht sie sich, ihr Vater könnte sie hier mit Hans sitzen sehen. Sie weiß nicht, wo er sich aufhält, ob er mal wieder einsitzt, ob er überhaupt noch eine Wohnung in der Stadt hat oder ganz woanders lebt.
Seit Wochen hat April sich vorgenommen, ihre Mutter zu besuchen. Sie steht vor der Wohnungstür, wie als Kind, das auf die Schritte hinter der Tür horcht und an ihnen zu erkennen versucht, was es erwarten wird. Sie erhofft sich noch immer Anerkennung von dieser Frau. Nun, da sie hochschwanger ist, wird ihre Mutter sie vielleicht als ebenbürtig ansehen. Die Mutter öffnet und sogleich beginnt das alte, bange Fragespieclass="underline" Ist es ein gutes oder schlechtes Zeichen, dass sie selbst öffnet und nicht Alex oder Elvis?
Du? sagt die Mutter, auf ihrem Gesicht zeichnet sich der schnelle Wechsel von Abwehr und Neugier ab, doch dann besinnt sie sich und begrüßt sie, als wären nicht Jahre seit ihrem letzten Wiedersehen vergangen.
April folgt ihr in die Küche, nimmt schon im Flur die vertrauten Gerüche wahr, ihre Brüder sind beim Abwaschen, sie sehen erwachsener aus, obwohl sie klein sind und dürr, und betrachten sie wie eine Unbekannte. Sie bemüht sich, fröhlich und entspannt zu wirken, bewundert das neue Bad, die rote Sitzgarnitur, das Tapetenmuster aus Ziegelsteinen, sie kennt die Regeln und spart nicht mit lobenden Worten. Für eine Weile hat es den Anschein, als wäre sie in ein ganz normales Familientreffen geraten, doch dann sieht sie an den Gesichtern der Brüder, dass sich nichts geändert hat, ihre Mimik ist gefroren, April erkennt die Angst hinter dem Lachen.
Die Mutter öffnet eine Bierflasche, bläst Zigarettenrauch in die Luft. Scheißwetter, sagt sie und schaut aus dem Fenster, da will man am liebsten sterben. Mit einer schroffen Bewegung weist sie die Brüder an, die Küche zu verlassen. Geht in euer Zimmer, sagt sie, hebt die Bierflasche und trinkt. Willst du auch eins? Ohne Aprils Antwort abzuwarten, öffnet sie noch ein Bier, schiebt es ihr zu, dann sagt sie flüsternd, ich hab Schluss gemacht, ich habe dieses Drecksvieh zum Teufel gejagt.
April kann sich vorstellen, was sie meint, doch sie hat keine Ahnung, wer der Mann ist, was er ihrer Mutter angetan hat oder sie ihm, was es mit ihr zu tun hat, trotzdem nickt sie.
Aus und vorbei, ihre Mutter lacht verbittert, hustet und schüttelt sich, als könnte sie es nicht fassen. Dieses Drecksvieh, sagt sie, wenn ich den erwische, der kann sich auf was gefasst machen. Sie sieht sich in der Küche um, als hätte sich das Drecksvieh irgendwo versteckt.
Es ist ein gewöhnlicher Nachmittag im März. Die Tage werden ohnehin nicht richtig hell, bleiben dämmrig, doch ihr kommt es so vor, als wäre der Raum, in dem sie und ihre Mutter sitzen, von einer bedrohlichen Dunkelheit erfüllt.
Der Kühlschrank ist leer, sagt ihre Mutter, ich kann dir nichts anbieten.
Danke, sagt sie, ich habe keinen Hunger.
Ihre Mutter zieht die Stirn kraus, wippt mit dem Fuß. Ich frag mich, fährt sie fort, ob er was mit dieser Schlampe hat, ob er wirklich so bescheuert ist.
Ihre Mutter versinkt in einem Wust von Anschuldigungen, und während sie einen Schluck nach dem anderen nimmt, werden ihre Tiraden immer wirrer. April fragt sich, ob die Mutter mit Absicht ihre Schwangerschaft übersieht.
Als hätte sie die Gedanken ihrer Tochter erraten, hält sie inne und fragt: Klär mich mal auf, gibt es einen Mann dazu?
April erzählt ihr von Hans, doch sie spürt, dass die Mutter mit den Gedanken woanders ist.