Irgendwann schnaubt die Mutter verächtlich, in ihrem Gesicht flackert noch größere Gereiztheit auf, sie leert die Flasche in einem Zug. Hör mir bloß auf damit, sagt sie, ich kann es nicht mehr hören, es ist doch immer das Gleiche.
Sie weiß, es wäre jetzt besser, nicht zu antworten, doch sie spürt Trotz in sich aufsteigen, sie sagt: Was meinst du damit?
Ihre Mutter legt den Kopf schief, wird plötzlich rührselig, beginnt zu weinen. Meine Große, sagt sie, es tut mir alles so leid, was ich dir angetan habe. April kennt diese Szenen, sie sind ihr peinlich und bleiben immer folgenlos; wenn ihre Mutter trinkt, wird sie von Reuegefühlen ergriffen und sentimental. Ein paar Minuten später ist sie wieder die Alte. Ich hab ihn geliebt, verstehst du, der Kerl hatte auch seine guten Seiten. Dann klopft sie mit den Knöcheln auf den Tisch und steht auf. Dieses Schwein, sagt sie, nie wieder, nie, nie, nie.
Ich sollte gehen, sagt April und steht auf.
Das solltest du. Die Stimme ihrer Mutter klingt sofort härter. Warum hast du nicht abgetrieben, fragt sie und deutet auf ihren Bauch, wird doch sowieso nur ein Krüppel.
Sie antwortet nicht, hört nicht auf das, was die Mutter ihr hinterherruft. Wäre sie bloß nicht hierhergekommen, wäre sie bloß frei von dem Schatten ihrer Mutter.
8
Hans hat sie ins Krankenhaus gebracht, zum Gebären abgeliefert, ja, so kommt sie sich vor. Sie ist schon eine Woche über dem Termin, und der Arzt beschließt, die Geburt einzuleiten. Das Fruchtwasser hat schon einen Grünstich, sagt er.
April klettert von dem Stuhl. Die Schwester reicht ihr ein weißes Nachthemd, es ist hinten geöffnet und hängt über ihren Bauch wie ein Zelt.
Sie sollten etwas zulegen, sagt der Arzt, haben ja kein Gramm Fett auf den Rippen.
Sie wird für die Geburt vorbereitet, rasiert, desinfiziert, an den Tropf gelegt.
Es regnet seit dem Morgen, sie weiß nicht, wie lange sie schon so daliegt, mit jedem Regentropfen, der das Fenster trifft, wächst ihr Zorn. Noch haben die Wehen nicht eingesetzt, noch könnte sie verschwinden. Sie muss an ihre Mutter denken, die ihr in der Kindheit den Geburtsschmerz sehr eindringlich geschildert hat und sich lieber erschießen lassen wollte, als das noch mal durchzumachen. April fragt sich, warum sie immer an ihre Mutter denkt, wenn es ihr schlecht geht, denn danach geht es ihr nur noch schlechter.
Der Regen hat sich auf ein Nieseln eingependelt, eine Elster streift am Fenster vorbei, eine Elster mit dem Gesicht eines Falken, und April spürt den ersten Schmerz. Die Wehen setzen ein, und schon bald wird der Schmerz zu einem tiefschwarzen Strudel, der alles, was sie ausmacht, verschlingt. Kein Zorn mehr, nur noch die Wucht nutzloser Schreie. Als eine Wehe sie überrollt, drückt die Schwester auf ihren Bauch, April meint kurz ihre Beckenknochen knirschen zu hören — von einer Sekunde zur nächsten ist alles vorbei.
Noch ungläubig betrachtet sie das blutverschmierte Bündel, das ihr die Schwester hinhält, ein Junge, sagt sie, und alles dran. April ist nur dankbar, dass sie die Augen schließen kann und der Schmerz aufgehört hat.
In dem großen Saal zählt sie zweiundzwanzig Betten, die Frauen reden über sie, über diejenige, die sich nicht zusammenreißen konnte und gebrüllt hat wie ein Tier. Einerseits verachtet April die Frauen, die sich selbst beim Gebären disziplinieren, als wäre es eine Form des Anstandes, die Geburt geräuschlos hinter sich zu bringen, andererseits möchte sie von ihnen angenommen werden. Als eine Frau zu ihr sagt: Ja Kindchen, du siehst aus, als wärst du nie schwanger gewesen, kann April ihr nicht erklären, dass sie gerne dicker wäre.
Die Babys werden auf einem großen zweistöckigen Rollwagen in den Saal geschoben. Er sieht aus, als wäre seine eigentliche Funktion das Befördern von Essen und Geschirr. April befürchtet, dass dies kein sicherer Ort für die Säuglinge ist, die in Tücher gehüllt schreiend nebeneinanderliegen und an ihre Mütter verteilt werden. Auch ihr wird ein Bündel überreicht. Sie nennt ihren Sohn Julius. Sein Gesicht erinnert sie an einen verhutzelten alten Chinesen. Vorsichtig berührt sie ihn.
Eine der Schwestern beginnt einen Vortrag und endet mit den Worten, es sei keine Schande, sein Kind zur Adoption freizugeben. Die Frauen reagieren mit kollektivem Zorn, auch April schnaubt.
Hans kommt vorbei, angetrunken, in Feierlaune. Er lässt sich Julius zeigen und bleibt nur kurz.
Draußen toben nächtliche Stürme, April findet keinen Schlaf. Sie fühlt sich unvollständig ohne Hans. Es kommt ihr in den Sinn abzuhauen, später könnte sie mit ihm zusammen ihr Kind abholen. Erst im Morgengrauen dämmert sie weg, träumt von einem Ort, der sich weit und menschenleer bis zum Horizont erstreckt, sie kann eine Sandwüste erkennen, ein einsames Haus, die Fensterläden klappern im Wind.
Am Tag ihrer Entlassung wartet sie vor dem Krankenhaus auf Hans, die Milch schießt ein, befleckt ihr Kleid. Er taucht nicht auf. April nimmt ein Taxi nach Hause. Sie steht eine Weile vor der Wohnungstür, scheut den Anblick leerer, stiller Zimmer ohne Hans. Dann findet sie ihn verschlafen im Bett vor und schließt ihn aus lauter Freude stürmisch in die Arme. Ich hab mit Freunden gefeiert, sagt er, wir haben Julius hochleben lassen, und ich bin immer noch kaputt. Sie weiß nicht, ob sie sich ärgern oder lachen soll.
Am nächsten Tag fährt Hans zu einem Tanzkurs nach Dresden. Dort treffen sich internationale Tänzer und Choreographen. Sie hat gehofft, er würde nicht fahren. Schon als seine Schritte im Treppenhaus verhallen, fühlt sie sich verlassen. Mechanisch gibt sie ihrem Sohn die Brust, trägt ihn umher. Wenn Julius schläft, raucht sie, sieht aus dem Fenster, nimmt die Geräusche überdeutlich wahr: das Gurren der Tauben, immer mit einem kurzen Laut am Ende, wie das Stopp beim Morsen, Getrappel auf dem Dachboden, ein Keuchen im Innern ihres Schädels. Der Himmel zeigt ein erbarmungsloses Grau, Wind peitscht durch die Bäume, ein Gewitter kündigt sich an. Sie nimmt Julius zu sich ins Bett, betrachtet ihn, versucht zu ergründen, was er fühlt, so blind, klitzeklein und abhängig von ihr.
In einer der Geschichten ihres Vaters kommt sie selbst als Säugling vor. Er habe ihre Mutter davon abhalten müssen, sie mit einem Kissen zu ersticken, wenn sie schrie. April weiß nicht, was sie von dieser Geschichte halten soll, es wäre ihr lieber, sie nie gehört zu haben.
Sie hat geglaubt, wenn das Kind da ist, stelle sich die Mutterliebe ganz von selbst ein. Sie kommt sich betrogen vor, und sie weiß nicht, ob all die anderen Mütter sich etwas vorgaukeln oder ob nur sie fehlerhaft ist. Die Liebe, die Liebe, die Liebe — wie soll sie jemanden lieben, den sie gar nicht kennt? Ihre Brüste sind hart, blau geädert, sie weiß nicht wohin mit der vielen Milch. Der erste Donner ist zu hören, Regen setzt ein, Blitze gabeln sich am Himmel, zucken grell ins Zimmer. Sie spürt, wie Julius sich anspannt und steif macht, legt ihn sich auf den Bauch. Blitz und Donner explodieren um sie herum, sie versucht, tief und gleichmäßig zu atmen, nach einer Weile passt sich der Atem von Julius an. Sie beginnt, ein Schlaflied zu summen.
Hans verlässt früh das Haus, probt an der Oper mit Tänzern, während ihr ganzer Tag auf seinen Feierabend ausgerichtet ist. Wie im Traum fährt April ihren Sohn spazieren, windelt ihn, gibt ihm die Brust — sie kauft ein, macht sauber, kocht das Essen. Aber wenn Hans sich abends nur um Minuten verspätet, fährt ihr die Angst in die Glieder. Sie ist immer wieder überzeugt, dass ihm etwas zugestoßen sein muss, und dann gibt der Boden unter ihren Füßen nach. Bevor sie in der Finsternis versinkt, feilt sie an ihrem Überlebensplan: Sie träumt davon, sich eine große Tiefkühltruhe anzuschaffen, dort wird sie liegen, lebendig eingefroren, und nur herauskommen, um ihren Sohn zu füttern; diese konfuse Vorstellung wirkt auf April befreiend.
Als Julius seine Schreiphase hat, stellen April und Hans ihn nachts ins Wäschezimmer, am anderen Ende des Flurs. Er muss schreien, sagt Hans, das hält ihn später auf Trab.