Dabei sind sie sich gar nicht sicher, ob es richtig ist, Julius schreien zu lassen, wie ihnen die Kinderärztin und andere Eltern raten. Sie warten vergeblich darauf, dass er aufhört; irgendwann können sie es nicht mehr ertragen und nehmen ihn zu sich.
9
Sie hat den Wechsel der Jahreszeiten kaum wahrgenommen. Die Wochen, Monate sind im Zeitlupentempo an ihr vorbeigeschlichen, haben ihr das Gefühl gegeben, sie stecke fest im täglichen Einerlei aus Windeln waschen, Brei geben, spazieren gehen. Julius ist ein Jahr alt. Wenn April mit ihm auf den Spielplatz geht, befriedigt sie einzig und allein die Vorstellung, die anwesenden Mütter und Kinder mit einer Kalaschnikow niederzumähen, und ihr falsches Lächeln überstrahlt das Schlachtfeld, wenn sie ihren Sohn am Sandkastenrand absetzt. Sie kann nicht glauben, dass die Mütter es ernst meinen, wenn sie einen Kuchen aus Sand backen und noch einen und vor Freude in die Hände klatschen. Als Julius seine ersten Schritte macht, bekommen sie einen Krippenplatz.
Tagelang Regen in allen Varianten: Wolkenbrüche, Wasserschleier, als hinge der Himmel in Fetzen. April freut sich darauf, arbeiten zu gehen, auch wenn anfangs nicht alles glattläuft. Im Museum gab es schon wieder eine Heizungshavarie, in allen Stockwerken wird gebaut. Die Südseemasken, für die sie zuständig war, werden nicht mehr benötigt, doch sie bekommt eine Stelle im Archiv. Sie sitzt allein in einem riesigen, schlecht beleuchteten Zimmer, in dem es nach Staub und nassem Hundefell riecht. Ein zweiter Schreibtisch steht ihrem gegenüber. Mit ihrer besten Schrift trägt sie die Kriegsverluste in das Inventarverzeichnis der in Leder gebundenen Bände ein, doch ihr Eifer legt sich bald. Sie leiht sich Bücher aus der Museumsbibliothek und liest über Kannibalismus und berühmte Stammesfürsten. Die deckenhohen Rollschränke sind mit Tausenden Fotos gefüllt, auf denen wilde Krieger, aufgebahrte Schrumpfköpfe, nackte Ureinwohner zu sehen sind. Fasziniert betrachtet sie einen Wurm am rötlichen Innenrand eines Auges, das felsartige Genital eines Mannes, der an Elephantiasis leidet und sich nur von der Stelle bewegen kann, indem er seinen Riesenschwanz auf einem kleinen Wagen neben sich herzieht. Manchmal hat sie das Gefühl, als wäre da noch jemand im Raum. Aus dem Fenster sieht sie auf den Innenhof, vor dem porösen Mauerwerk steht eine von Frühlingswinden durchgeschüttelte Kastanie. Dort treffen sich ihre Kollegen in den Raucherpausen, schon bald steht sie bei ihnen oder sitzt rauchend in der Kantine, niemand scheint Rechenschaft über ihre Arbeit zu verlangen.
Es gibt nur eine Kontrolle, die sie zu befürchten hat — der Museumsdirektor klärt sie darüber auf. Ob ihr klar sei, welche Auflagen mit ihrem Arbeitsplatz verbunden sind, fragt er und bietet ihr ein Glas Wein an.
April hat keine Ahnung, den Wein lehnt sie ab. Es ist später Vormittag, sie sitzt im Direktorenzimmer auf dem Sofa.
Er erklärt ihr, dass sie wegen ihres Rehabilitationsplatzes zweimal im Jahr überprüft werden müsse. Der Direktor hält die Zigarette nah am Mund, seine Finger sind gelb vom Nikotin. Die Stelle ist zeitlich begrenzt, sagt er und greift nach seinem Weinglas. Sie versucht zuzuhören, doch ihr Blick gleitet aus dem Fenster, in der Ferne wird Klavier gespielt, darüber das wütende Rauschen des Windes.
Aber sie werde natürlich vor den Kontrollen informiert, sagt er. Ob sie wisse, wie Eskimos sich begrüßen. Schon hat sie seine Nase im Gesicht und seinen Weinatem — natürlich weiß sie, wie Eskimos sich begrüßen.
Als April wieder an ihrem Schreibtisch sitzt, überlegt sie, ob sie das richtig verstanden hat: Man kontrolliert nicht, ob sie ihre Arbeit gut macht, sondern ob ihre Psyche labil genug ist. Wenn sie hingegen gesund ist, verliert sie ihren Arbeitsplatz. Sie weiß zwar nicht, was ihr lieber wäre, aber sie wird auf alle Fälle vorbereitet sein.
Sie ist berauscht vom Frühsommer, und gleichzeitig fühlt sie eine starke Enttäuschung. Wann hat sie angefangen, Hans mit anderen Augen zu sehen? In den guten Momenten kann sie mit ihm sogar Gustav Mahler hören, ohne sich dabei aufzulösen. Doch die Liebe strengt sie ungeheuer an. Sie weiß nicht, was ihre Liebe zu Hans ausmacht, sie hat große Angst, dass er sie verlässt, doch sie tut einiges dafür. Manchmal hat April das Gefühl, es ist genau diese Angst, die sie an Hans bindet. Ich möchte tot sein, schreibt sie in ihr Tagebuch, wenn sie und Hans sich wieder einmal gestritten haben. Dabei ist er immer verständnisvoll, sogar wenn sie tobsüchtig wird, Geschirr an die Wand wirft, alles kaputt machen will. Er zieht sie aus dem Scherbenhaufen hoch, und sie, eine Gefallene, lässt es schuldbewusst geschehen. Wir sind eine Familie, sagt er, tu nicht immer so, als wärst du allein.
Hans hat sich ein Auto von einem Freund geborgt, einen knallgelben Wartburg. Ein anderer Freund hat ihnen seine Laube am See überlassen. Doch vorher wollen sie noch nach Rügen. Es regnet in Strömen, die Scheibenwischer sind kaputt, Hans fährt langsam, fast Schritttempo. Ich weiß gar nicht, wo wir sind, sagt er mit einem Blick auf die Karte. Hier müssen wir lang. Er deutet mit dem Finger auf eine der Linien.
Ja, sagt sie, um etwas beizutragen; ihre Orientierungslosigkeit geht über das normale Maß hinaus.
Diese Linie ist die Straße, auf der wir uns befinden, ist dir das eigentlich klar?
Sie teilt seine Begeisterung über die langen Alleen, an denen die Bäume Spalier stehen und die Blätter über ihnen ein Dach bilden. Aber der Regen schließt sie ein, wie in eine Kapsel. Sie muss an Julius denken, der sich ohne viel Aufhebens in die Arme von Babs begeben hat. Er wird sie bestimmt nicht vermissen, doch auch sie ist froh, ein paar Tage ohne ihn zu sein, sich nicht ständig fragen zu müssen, ob ihm etwas fehlt, ob er gerade losheult oder ein anderes Kind.
Der Regen hat aufgehört. Hans erhöht das Tempo, in einer Kurve rutschen die Hinterreifen weg, er bremst scharf ab, das Auto kommt ins Schlingern.
Pass auf, sagt sie, du fährst viel zu schnell, mir wird schwindlig.
Geht schon, sagt er.
Nein, geht nicht, sagt sie, du bist lange nicht gefahren.
Hör auf mit dem Gejammer.
Du bist aus der Übung. Ich will noch leben. Sie atmet tief durch. Bitte fahr langsamer.
Auf einmal willst du leben.
April weiß nicht, wie oft sie solche Gespräche schon geführt haben, doch sie weiß, dass es nichts bringt. Trotzdem kann sie nicht aufhören. Fahr langsamer, oder ich steige aus, sagt sie.
Es scheint ihm Spaß zu machen, wenn er ihr einen Schrecken einjagen kann. Hans beschleunigt, schaut stur nach vorn, gibt noch mehr Gas.
Bitte. Ihr Ton klingt gar nicht bittend.
Was denn? Hans trommelt gegen das Lenkrad. Das ist doch lächerlich.
Es ist, als würde er Rache nehmen für seine sonstige Gelassenheit, und sie fragt sich, ob es damit doch nicht so weit her ist.
Abends sitzen sie am Strand, kleine Wellen landen schäumend vor ihren Füßen. April lacht. Sie will lachen. Sie stellt Fragen, und Hans antwortet.
Anderntags schwimmt sie im Meer, fängt winzige Krabben, die sie in einem Tümpel wieder aussetzt. Sie hat sogar Lust, eine Sandburg zu bauen, aus der Sandburg wird eine Wohnung, Küche, Schlafzimmer, Kinderzimmer — alles da. Kommen Sie uns doch besuchen, ruft sie den Geistern zu, die wie April Mutter, Vater, Kind spielen. Sie scherzt ausgelassen mit Hans, denkt sich Mutproben aus: Sie spricht Urlauber in einer Sprache an, die es nicht gibt, einem Kauderwelsch aus ihrem Schulrussisch und erfundenen Wörtern; sie schwimmt weit über die Boje hinaus, spielt eine Ertrinkende; geht in ein besseres Restaurant, nimmt ein Glas Sekt vom Tisch, prostet den Gästen zu, trinkt es aus und geht wieder.
Als Hans langsam genug hat, ist ihr zumute wie einem Kind, dem man das Spielzeug wegnehmen will.