Komm, lass uns gehen, sagt er, es ist spät.
Sie liegen nebeneinander im Bett, und April kann nicht einschlafen. Es ist eine Spannung in ihr, die sie kaum aushält, am liebsten wäre sie ein Affe und würde von Baum zu Baum springen, laut und schrill kreischen, bis sie vor Erschöpfung keine Luft mehr bekommt. Hans schnarcht leise. Sie flüstert, wie unglücklich sie sich fühlt, wie allein, ungeliebt, doch Hans wacht nicht auf. Sie ist gerade einundzwanzig geworden, sie kommt sich immer noch vor, als wäre sie jemand auf Durchreise, sie will begreifen, was sie umgibt. Doch das Wahre vom Falschen zu unterscheiden ist so, als müsste sie lernen, mit geschlossenen Augen zu schielen.
Am nächsten Morgen bricht sie einen Streit vom Zaun, provoziert Hans, bis er ins Auto steigt und ohne sie losfährt. Sie packt ihre Sachen und stellt sich an die Autobahn, aber sie weiß nicht einmal, wie der See heißt, an dem die Laube stehen soll. Es bleibt ihr wohl nichts anderes übrig, als nach Hause zu trampen. Es dauert eine ganze Weile, bis ein Auto hält. Der Fahrer neben ihr stinkt nach Rasierwasser, er betrachtet sie verschlafen und hustet rasselnd. April bereut längst, sich mit Hans gestritten zu haben. Sie döst vor sich hin, hat keine Lust, mit dem Fahrer zu reden, schaut stur aus dem Fenster. Als sie auf einem Parkplatz einen gelben Wartburg erblickt, schreit sie, dass der Fahrer halten soll, und zwar sofort. Er hält erst, nachdem sie ein zweites und drittes Mal geschrien hat. Der Fahrer haut sich an die Stirn, du bist doch völlig bekloppt, sagt er, so was von bekloppt. April reißt die Tür auf und springt heraus, fast hätte sie ihr Gepäck im Auto vergessen. Sie geht am Straßenrand entlang, heißer Sand knirscht unter ihren Sandalen, der Koffer in ihrer Hand wird immer schwerer. Kolonnen von LKW donnern an ihr vorbei, die Autobahn unter der Sonne gleicht einer glitzernden Schlange. Als April endlich den Parkplatz erreicht, steht der gelbe Wartburg noch da, und zu ihrer Erleichterung entdeckt sie Hans schlafend auf den heruntergeklappten Sitzen. Sie betrachtet sein Gesicht durch die Scheibe, als hätte sie ihn seit Ewigkeiten nicht gesehen. Selbst im Schlaf sieht er aus, als würde er nachdenken. Sie hält ihr Ohr an die Scheibe, doch sie hört nichts. Wo sie steht, ist es still, nur ihr Herz hämmert laut. Sie schlendert über den Parkplatz, zwischen Unkraut liegt Abfall, ein zerfetzter Papierdrache hängt in einem Baum. April beobachtet eine große Schnecke, die ihre Schleimspur auf einer Reifenfurche hinterlassen hat. Als sie sich umsieht, entdeckt sie überall Schnecken, sie nimmt eine und setzt sie auf die Windschutzscheibe. Dann sammelt sie alle Schnecken, die sie finden kann, bis nach einer Weile sämtliche Autoscheiben mit ihnen bedeckt sind. Der Nachmittag geht in den Abend über, ohne dass Hans aufwacht. April kann nicht mehr durch die Scheiben sehen, sie sitzt da und wartet. Sie könnte hier noch lange sitzen, sie würde Teil des Abends werden, der nahenden Nacht. Erst sein Schrei schreckt sie auf, Hans springt aus dem Auto, läuft kreuz und quer über den Parkplatz, und als er sie entdeckt, wirkt er völlig verwirrt. Hier, schau mal, sagt er, bleibt vor ihr stehen und zeigt ihr seinen Unterarm, auf dem sich die feinen Härchen aufgerichtet haben. Was ist nur mit dir los, sagt er. Du hast nur Unsinn im Kopf. Denkst du überhaupt mal an andere?
Während sie gemeinsam die Schnecken vom Auto klauben, versucht sie ihn aufzuheitern. Unterwegs im Auto sieht sie ihn an und lächelt. Eine Zurückweisung würde sie nicht ertragen.
Hans deutet auf die verschmierte Frontscheibe, was hast du nur angerichtet, sagt er, und sie ist dankbar für sein Lächeln, auch wenn es gezwungen wirkt. Die Scheibe sieht aus, als hätte ein Riese sie bespuckt. Spätabends kommen sie an. Von einer Mückenwolke begleitet, folgt sie ihm über den schmalen Uferweg zu einem Steg, der an einem Bungalow endet. Hans zieht den Schlüssel aus seiner Jackentasche, auf Anhieb gefunden, sagt er. Die Tür knarrt beim Öffnen, als würde sie sich wehren, drinnen ist es dunkel und stickig, Hans zündet eine Kerze an und hält sie hoch. An den Wänden hängen Poster mit Fischen drauf, in einer Ecke stehen fein säuberlich aufgereiht bunte, glänzende Angeln.
Ich hab Hunger, sagt sie.
Besser nicht ans Essen denken, sagt Hans, kann sein, dass nichts da ist.
Es wird schon was geben, sagt sie und öffnet einen Schrank, sucht überall und findet nichts. Wir könnten Fische fangen.
Lass bloß die Angeln in Ruhe, sagt er, sind nicht unser Eigentum.
Nicht unser Eigentum, äfft sie ihn nach, na und? Sie schaut durch das winzige Fenster, auf dem Wasser schimmern weiße Seerosen.
In einem Schuhregal entdeckt sie neben Gummistiefeln und Jesuslatschen eine Flasche Rum. Ich hab was gefunden, ruft sie und hält ihm triumphierend die Flasche vor die Nase.
Ich weiß nicht, sagt Hans, wir können die nicht einfach aufmachen.
Wer hindert uns daran?
Wir müssten sie ersetzen. Ist dir das nicht klar?
Ist mir egal, sagt sie. Auf ihrer Oberlippe stehen Schweißperlen. Sie geht nach draußen, öffnet die Flasche, ihre Knie werden weich nach dem ersten Schluck. Hans kommt zu ihr mit einer Tüte Keksen in der Hand.
Ich könnte die ganze Welt aufessen und wäre immer noch hungrig, sagt sie und nimmt sich einen Keks. Wo hast du die her?
Es gibt eine Vorratskammer.
Ein kleines Boot schaukelt am Steg zwischen Seerosen, der ganze See ist mit ihrem Weiß bedeckt, wunderschön, sagt sie und beugt sich über das Wasser, um eine Blüte zu pflücken.
Hans lacht laut.
Was ist los, fragt sie.
Nichts, sagt er, gar nichts.
Sie reden über» Schuld und Sühne«. Wäre Hans Schriftsteller, würde er ein Buch schreiben, das keinen Anfang und kein Ende hätte.
Wie willst du das machen, sagt sie, der Anfang ist doch da, mit dem ersten Wort.
Darum geht es nicht. Es ist ein Konzept. Du kannst das Buch in der Mitte aufschlagen und zu lesen beginnen, ohne etwas verpasst zu haben.
Da sitzt du jahrelang dran, sagt sie, das ist wie ein Puzzle.
Oder wie die Bibel. Hans starrt auf den See hinter ihr.
Die Flasche ist halb leer, wenn sie die Augen zusammenkneift, kann sie den Mond zwei- bis dreimal am Himmel sehen. Alle paar Sekunden schlägt sie eine Mücke tot, die sich vorher an ihrem Blut gelabt hat. Die Viecher spürt man erst, wenn es zu spät ist, sagt sie.
Mich wollen sie nicht, sagt er, saures Blut.
Die Nachtluft ist erfüllt von Geräuschen, die sie überdeutlich wahrnimmt, ein stetes Schwirren und Summen, Schilfgeraschel, in der Ferne meint sie Kuhglocken zu hören, ganz nah springt ein Fisch.
Sie erwacht auf dem Steg, mit schmerzendem Rücken, ihre Kehle fühlt sich an wie zugeklebt. Die Morgensonne sticht viel zu grell vom Himmel herab. Die Nacht hat mit einem Streit geendet, sie entsinnt sich ihrer Ohnmacht und der Worte von Hans, sie würde ihn in den Wahnsinn treiben — dabei ist sie dem Wahnsinn nahe gewesen: Jeden ihrer Gedanken hat er bedeutungsschwer zu Ende führen müssen, als komme es gar nicht darauf an, was sie sagt. April spürt immer noch die Wirkung des Alkohols, doch gleichzeitig auch Erleichterung, als sie sich klarmacht, dass sie einfach fortgehen kann. Sie holt ihre Sachen aus der Hütte, geht leise an Hans vorbei, der auf einer Luftmatratze liegt. Sein Atem geht schnell und flach, sie beeilt sich, rauszukommen, ehe er aufwacht. Sie verlässt die winzige Insel, neben der sich weitere winzige Inseln befinden, mit kleinen Hütten drauf, wie ein Unglück am anderen, denkt sie, kommt an Gärten vorbei, Mücken summen an ihrem Ohr. Sie fühlt sich verkatert, klamm und schmutzig. Die Insellandschaft liegt hinter ihr, sie geht über staubige Wege, Straßen, die plötzlich aufhören, und nach einer Weile trottet sie nur noch dahin. Die sandige Ebene geht über in einen Wald, die Sonne sticht aus dem Nichts. Sie klettert auf einen Hochsitz und sieht nur Kiefern ringsherum, knarrende Kiefernwipfel, erschöpft bläst sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie denkt an den nächtlichen Streit mit Hans, an seine Worte: Wer mir nicht folgt, der bleibt zurück. Für sie klingt das wie eine Parteitagsparole. Sie versteht wieder einmal nicht, was er damit sagen will; doch wenn er es ausspricht, klingt es unumstößlich. Warum streiten sie sich so oft bis zur Erschöpfung, wie zwei Schwimmer, die sich zu weit hinausgewagt haben? Werden sie irgendwann ertrinken? Inzwischen plagen die Mücken sie von Kopf bis Fuß, sie sieht zu, wie eine sich auf ihrer Hand vollsaugt, und als das Rot in dem winzigen Körper aufscheint, zerquetscht sie das Insekt. Blödes Vieh, ruft sie, blödes, blödes Vieh. Sie läuft rastlos über ausgetretene Waldpfade, durch dichtes Gestrüpp, stört sich nicht an den Kratzern, verflucht sich, weil sie von Himmelsrichtungen keine Ahnung hat. Sie kann nicht mehr klar denken, bleibt stehen, schließt die Augen. Sie wird einfach weiterlaufen, irgendwann muss der Wald ja aufhören. Ihr ist schwindlig, vor ihren Augen wabert es weiß, als hätte sich die Sonne in Nebelfetzen aufgelöst. Als hinter einem Hügel endlich eine kleine asphaltierte Straße sichtbar wird, atmet sie tief durch. Nach einer Weile hört sie ein Auto hinter sich und bleibt stehen. Ein Trabant hält neben ihr, der Mann am Steuer kurbelt die Scheibe herunter und fragt, was sie hier zu suchen habe. Sie versteht die Frage nicht. Das hier sei Privatbesitz, erklärt ihr der Mann, das Land gehöre ihm, und sie solle gefälligst verschwinden. Gefälligst? Sie schreit den Mann an, was er sich denn einbilde, ein so großer Wald könne niemals einem Einzelnen gehören. Ihre Wut entlädt sich wie in einem Gewitter, der Mann betrachtet sie entgeistert, als würde sie einer besonderen Spezies angehören.