Welch Mühsal ists auf ewig
verbannt zu sein ins eigne Fleisch,
Hirte sein und Schaf zugleich,
durch stets die gleiche Tür zu gehen
und nie das Draußen nah zu sehn,
befangen sein und bleiben!
Sie beginnt die Duineser Elegien auswendig zu lernen.
Warum machst du das, fragt Silvester gar nicht beeindruckt.
Dann hab ich die Verse im Kopf.
Wozu?
Stell dir vor, du bist auf einer einsamen Insel und hast kein Buch. Oder im Gefängnis, das gibt doch Trost. In ihren Ohren klingt diese Erklärung einleuchtend. Die ehrliche Antwort würde jedoch lauten, sie träume davon, ihn nicht mit ihrem Körper, sondern nur mit Rilke-Versen zu erobern.
Sie trinkt ihren Kaffee schwarz, raucht Karo, umgeben von blauem Dunst arbeitet sie an ihrer ersten Erzählung, sie kauft sich ein Notizheft und beschreibt alles, was ihr besonders auffällt. Raubvögel im Sturzflug, eine Kinderhand aus einem Fenster winkend, Träume und Albträume, eine Gestalt am Horizont, die näher kommt. Musik zu beschreiben ist das Schwierigste. Die kurzen Texte findet Silvester gelungener, das bist mehr du, sagt er, und obwohl sie sich nicht ganz im Klaren darüber ist, was er meint, freut sie sich. Sie hat das Gefühl, ernsthaft zu arbeiten, denkt über richtige und falsche Wörter nach, versucht Dinge nach ihrer Herkunft zu benennen. Sie kann nicht glauben, dass Rilke die Duineser Elegien mit kühlem Kopf geschrieben hat, doch die Art Fieber, das innere Glühen, das ihr vorschwebt, will sich nicht einstellen. Sie probiert es mit Schlafentzug, streunt bis zum Morgengrauen durch die Straßen, doch das führt bei ihr nur zu bleierner Müdigkeit und einem fruchtlosen Gedankenchaos.
Warum bewirbst du dich nicht bei diesem Institut für Literatur, fragt Silvester.
Sie ist erstaunt, dass er ihr zutraut, von einer Institution für tauglich befunden zu werden, und schickt die Bewerbung ab. Hans fragt sie nicht, sie will sich sein skeptisches Kopfschütteln ersparen.
11
Seit Tagen liegt sie mit hohem Fieber im Bett, sie hat eine Eierstockentzündung. Seit der Geburt von Julius schlägt sie sich damit herum. Manchmal hat sie das Gefühl, dass ihr Körper mit dieser Entzündung auf Hans reagiert, so kann sie sich ihm entziehen, wenn er mit ihr schlafen will. In ihren Fieberträumen steckt sie vom Bauchnabel abwärts in dem Gehäuse eines Stehaufmännchens, hat weder Füße noch Beine, steht nur trudelnd am Fleck. Die Träume sind so eindringlich, dass sie sich im wachen Zustand vorsichtig an die Füße fasst. Nachts schreckt sie immer wieder hoch, meint an ihrer eigenen Spucke zu ersticken. Tagsüber dringen Geräusche von Julius und Hans durch die Tür, ein mattes Dahintreiben von Worten, sie fühlt sich geborgen — es geht auch ohne sie. Im Fieber kann sie loslassen, die Anspannung löst sich, sie hat das Gefühl, aus einem eisernen Korsett befreit zu werden. Sie malt sich aus, was für eine gute Mutter sie sein wird, stundenlang wird sie Julius Märchen vorlesen, sich geduldig sein Geplapper anhören, ihn lieben, wie sie ihn lieben sollte, ihm ein warmes Nest bieten. Und Hans will sie eine gute Frau sein — doch sobald sie einschläft, stürzt die behagliche Vorstellung zusammen, und sie steckt wieder im Gehäuse, steht trudelnd am Fleck.
Als sie kein Fieber mehr hat, ist sie um drei Kilo leichter. Du siehst aus wie ein Faden im Wind, stellt Silvester erschrocken fest. Sie kann vor Schwäche nicht mal lächeln, nimmt alles wie durch einen trüben Belag auf der Netzhaut wahr, die einfachsten Tätigkeiten fallen ihr schwer. Julius scheint seine Mutter gar nicht wiederzuerkennen, er betrachtet sie wie eine Fremde, die man ihm ungefragt vor die Nase gesetzt hat.
Im Museum sitzt sie frierend am Schreibtisch, ihre Füße stecken in einem elektrischen Heizschuh. Bei allem, was sie macht, ist sie nur halb bei der Sache. Sie hat Angst, Hans zu beleidigen, wenn sie den Mund öffnet — also schweigt sie. Abends geht sie wieder allein in die Stadt, trifft sich mit Irma in der» Csárdás«. Nach einigen Gläsern Wein zu viel kommt sie nachts einmal an einem Podest vorbei, auf dem die Fahnen aller Bruderländer für die Herbstmesse gehisst sind. Aus einer plötzlichen Laune heraus möchte sie die Fahnen runterholen. Sie klettert auf das Podest und beginnt an den Masten zu hantieren. Eine Fahne nach der anderen flattert zu Boden. Zufrieden betrachtet sie ihr Werk, setzt sich zwischen die Stoffhaufen, raucht eine Zigarette, sieht sich um und bemerkt, dass sie nicht allein ist. Wie aus dem Nichts steht ein Mann vor ihr. Erschrocken steigt sie vom Podest und lächelt den Mann an. Sein Gesicht bleibt leblos wie das einer Holzpuppe, er sagt kein Wort. Als sie wegläuft, heftet er sich an ihre Fersen. Sie setzt zu einem Sprint an und rennt, als wollte sie einen neuen Rekord aufstellen, aber sie kann ihn nicht abhängen. Feigling, ruft sie wütend, erbärmlicher Feigling, sie dreht sich kurz um und sieht ihm an, dass es ihm nichts ausmacht — das Recht ist auf seiner Seite. Mit einem lauten Schrei zwängt sie sich durch ein Gebüsch am Straßenrand, rennt über eine Wiese, spürt ihre Schritte langsamer werden. Der Mann ruft ihr etwas hinterher, auch er klingt wütend, rechtschaffen wütend. Sie entdeckt eine Baustelle, läuft kreuz und quer über Schutthaufen, Kabelrollen, schlägt Haken, kriecht in eine der großen Betonröhren, bleibt dort regungslos hocken. Nichts als Stille und Dunkelheit, dann aus der Ferne die Stimme des Mannes, freundlich, lockend. Doch darauf fällt sie nicht herein. Sie hält die Luft an, als könnten ihre Atemzüge sie verraten, und selbst als die Stimme des Mannes schon lange verstummt ist, bleibt sie in der Betonröhre hocken. Wind streift hindurch, es klingt wie das Rauschen in einer Muschel, die man sich dicht ans Ohr hält. Erst als Licht am Ende des Tunnels aufscheint, kriecht sie ins Freie. Die Sonne überzieht die Baustelle mit Helligkeit. April steht da und versucht sich zu orientieren, von allen Seiten geheimnisvolle Geräusche, ein kühler Hauch steigt vom Boden her auf. Als sie begreift, wo sie sich befindet, wie weit sie von Hans und Julius entfernt ist, begreift sie auch, dass ihre Sehnsucht nach Normalität nur gestillt werden kann, wenn sie es schafft, sich zu ändern. Dabei hat sie längst den Spruch von Pestalozzi in ihren Schreibtisch geritzt:»Wer sich nicht selber helfen kann, dem kann niemand helfen.«
Silvester hat im Museum gekündigt — er wird Theologie in Naumburg studieren — , und statt seiner sitzt ihr das Pferdeschwanzmädchen gegenüber, die junge Frau, die April schon in seiner Wohnung kennengelernt hat. Silvester ist Atheist, doch Theologie ist das einzige Studium, das Leuten wie ihm offensteht.
Leuten wie dir, was meinst du damit?
Das muss ich dir doch nicht erklären, sagt Silvester.
Ach, manchmal weiß ich nicht, was das Ganze soll, sagt April, wozu sich abmühen.
Mit solchen Gedanken verschwende ich nicht meine Zeit, sagt er. Du brauchst immer deine Portion Verzweiflung, oder?
Susanne, das Pferdeschwanzmädchen, will Papierrestauratorin werden; es wird eine Freundschaft auf den zweiten Blick. Sie sehen sich stundenlang die Fotos aus dem Archiv an, stellen sich vor, sie würden in diesen wilden Gegenden leben, kichern über Eingeborene, die ihren Penis mit einem Rohr verhüllen.
Sie bemalen Reißzwecken mit knallrotem Nagellack und verkaufen sie als Ohrringe; von dem Erlös kauft sich April einen Schal, den sie schon bald verliert. Sie schneiden sich gegenseitig die Haare, lassen Freundschaftsfotos anfertigen. Susanne näht Hosen und Hemden, eine Art Mao-Uniform, die sie zum Ausgehen tragen. Sie sprechen über Männer.