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Ich finde männliche Unterarme erotisch, sagt April. Sie will originell sein, sich als Männerkennerin ausweisen. Doch Susanne sieht sie nur groß an.

Einmal bringt Susanne eine Mappe mit ins Museum, eine Untergrundmappe, die in Berlin herausgegeben wird. Hier, schau dir das an, sagt sie und reicht April die Mappe über den Schreibtisch. Darin liegen lose Blätter mit Gedichten, Erzählungen, Fotografien und Graphiken. April kann nicht beurteilen, ob die Texte gut oder schlecht sind, die Fotos gefallen ihr, bei den Graphiken ist sie sich nicht sicher. Das wäre doch ein Abenteuer, sagt sie, und Susanne pflichtet ihr bei, ja, das können wir auch.

Es geht ihr nicht darum, sich auf diesem Weg kritisch mit ihrem Land auseinanderzusetzen. April kann sich nur auf ihr Unrechtsbewusstsein verlassen, und natürlich empfindet sie jede Form von Zensur als ungerecht. Bei Diskussionen ist ihr oft unklar, auf welche Seite sie sich schlagen soll, aber sie ist eindeutig dagegen, im Dienst einer übergeordneten Sache ein Menschenleben zu riskieren. Es ist ihr egal, dass andere sie für eine altmodische Schlafmütze halten, wenn sie die Kaufhausbrände der Baader-Meinhofs als mörderisch und menschenverachtend bezeichnet. Diese Ereignisse spielen sich jedoch in einer anderen Welt ab, sie sind so weit weg, dass April sich ein Urteil erlaubt. Aber hier, wo sie zu Hause ist, ist ihr Blick getrübt, sie kann nicht klar sehen. Die Stasi-Geschichten kommen ihr aufgebauscht vor. Als bei der letzten Volksvertreterwahl zwei Leute vor Aprils Tür standen, um sie persönlich zur Abstimmung abzuholen, hat sie ihnen einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen — und? Danach passierte nichts.

Die Vorstellung, eine solche Mappe zu gestalten, bereitet ihr Freude. Damit könnte sie der klappernden Öde entkommen, in der sie gerade feststeckt. Die klappernde Öde schaltet in ihrem Gehirn ganze Bereiche aus, und jeder Gedanke ist dann bloß ein Abziehbild des vorangegangenen.

Doch mit der Freude ist es auch so eine Sache, April scheitert schon an ihrem Unvermögen, einen Rundbrief an die Künstler zu verfassen. Sie schreibt so alberne Dinge wie: Ergüsse, wir würden uns über eure literarischen Ergüsse freuen. Sie nimmt weder sich noch die anderen ernst. Wer soll sich dadurch angesprochen fühlen?

Von wegen: Das wäre doch ein Abenteuer, das können wir auch. Was befähigt sie dazu? Sie sucht die Künstler persönlich auf und wird freundlich empfangen, bekommt Tee, Schmalzbrote, schon deshalb ein lohnender Ausflug. Sie tut ihr Möglichstes, um zu erklären, was sie will, sie hat die Mappe aus Berlin dabei. Bis zum Morgengrauen sitzt sie mit Malern, Dichtern, ganzen Familien am Küchentisch, es gibt jede Menge Ideen und Anregungen. Nach und nach fällt es ihr leichter zu sagen, was sie vorhat, und wenn Susanne dabei ist, sind sie ein eingespieltes Team. Sie wollen ihre Untergrundmappe» Anschlag «nennen, die Auflage soll dreißig Stück betragen.

Inzwischen haben sie ausreichend Fotografien, Graphiken und Texte für die erste Ausgabe gesammelt. Eine Auswahl treffen sie nicht, denn das hieße Zensur. Tagsüber tippen sie im Museum Gedichte und Erzählungen ab, mit Blaupapier schaffen sie in einem Durchgang vier Seiten, von den Graphikern und Fotografen erhalten sie die Arbeiten in dreißig Abzügen. Susanne hat einen blauen Einband aus Ölpapier entworfen und ihn dreißigmal hergestellt. Sie haben den Anspruch, eine richtige, gebundene Zeitschrift herauszugeben. Abends treffen sie sich in Susannes Wohnung, verkleben die einzelnen Blätter, lassen sie trocknen, dann werden sie gepresst. Zum Schluss wird jede Mappe noch einmal genagelt und der Rücken mit einem Zierband verklebt. Sie arbeiten still und konzentriert, ohne Pausen, und als die Mappen fertig vor ihnen liegen, ist das ein großartiges Gefühl. Sie verteilen ihren» Anschlag «an alle Künstler, die sich beteiligt haben, und an Freunde, die die Mappen reihum weitergeben. April würde sie gern Schwarze Paul, Sputnik und den anderen zeigen, doch sie ahnt, dass ihre alten Freunde darüber eher befremdet wären. Sie hört Schwarze Paul ihren Spitznamen rufen, Rippchen, Rippchen, was machen wir jetzt?

Sie besucht Irma und bringt ihr eine Mappe mit, die sie im Proberaum auslegen soll. Toll, sagt Irma, das habt ihr ganz ohne Männer geschafft. Sie trägt eine schwarz glänzende Kappe, und April würde ihr am liebsten sagen, dass sie immer mehr einer Hummel gleicht, einer friedfertigen Wehrstachelträgerin, sie würde am liebsten laut summen — so wenig kann sie Irmas anerkennenden Blick aushalten.

Der Vater von Hans ist in München gestorben. Als die Nachricht eintrifft, stellt sich heraus, dass Hans just in seiner Todesnacht vom Vater geträumt hat, obwohl er schon sehr lange nichts mehr von ihm gehört hatte. Die Brüder stellen gemeinsam den Antrag, an der Beerdigung teilnehmen zu dürfen. Sie haben zwar mit der Ablehnung gerechnet, aber dann reagieren sie doch fassungslos. Was für eine Anmaßung, sagt Hans, sie hat ihn noch nie so verärgert gesehen.

Wir sollten hier endlich verschwinden, sagt April zu Hans, wir sollten dieses Land verlassen. Sie sagt das ins Blaue, hat keine Vorstellung, was damit verbunden ist. Den Westen, das sogenannte kapitalistische Ausland, hat sie sich immer als eine Art Eispalast vorgestellt, wie im Märchen der Schneekönigin. Die Straßen, Gehwege, Häuserwände gefliest, darüber selbst im Sommer Raureif, dauerhaft wie Marmor. Die Menschen parfümiert, ohne Eigengeruch. Dennoch kann ihr keine Propaganda erklären, warum sie in einem Land bleiben muss, um das eine Mauer gezogen ist. Sie will selbst entscheiden dürfen, wo und wie sie lebt.

Zu ihrer Überraschung bedarf es keiner langwierigen Diskussion mit Hans. Das sollten wir tun, sagt er, offenbar hat er schon lange darüber nachgedacht.

Die Vorstellung, dass sie gemeinsam weggehen werden, bringt sie einander wieder näher. Sie sitzen morgens und abends zusammen, reden, diskutieren. April ist zumute, als sei ein trüber Schleier von ihrer Beziehung genommen.

Ihr erster Antrag wird mit der Begründung abgewiesen, dass dafür jede gesetzliche Grundlage fehle. In ihrem zweiten Schreiben beruft sich Hans auf die Menschenrechte. Von da an schreiben sie wöchentlich und erhalten immer dieselbe Antwort. Die Behördengänge erweisen sich schon bald als Farce, sie werden wie Kinder behandelt: Na, was haben wir uns denn dabei gedacht, einen Antrag wollen wir stellen, ts, ts, ts, na, so was aber auch. Hans verliert seinen Studienplatz. Nun müssen sie mit Aprils Lohn auskommen. Als es einmal wirklich knapp wird, erinnert sie sich an den Schmuck der beiden alten Frauen von der Haushaltsauflösung und geht damit in ein Antiquitätengeschäft, ohne sich große Hoffnung zu machen. Doch dann stellt er sich als echt und wertvoll heraus. Sie behält nur ein Kreuz aus Granatsteinen, für den restlichen Schmuck bekommt sie eine größere Summe und kauft im Exquisitladen die feinsten Dinge. Lachend erzählt sie Hans, dass sie reich sein könnten, hätte sie damals das ganze funkelnde Zeug eingesteckt.

Durch ihren Antrag auf Ausreise hat sich etwas grundlegend geändert: Sie gehören nicht mehr dazu. April begegnet beim Bäcker, in der Poliklinik und andernorts denselben Leuten, doch sie hat das Band gekappt, ist aus der Schicksalsgemeinschaft ausgestiegen. Das ist ihr sogar dann bewusst, wenn ihr Gegenüber nicht Bescheid weiß. Ihr Gefühl von Überlegenheit wechselt sich mit Angst, manchmal mit Wehmut ab: wieder ein Stück Unschuld verloren.

Nach einer Weile werden auch die wöchentlichen Behördengänge zur Routine. Immer noch treffen sich Hans und Reinhard einmal in der Woche mit Freunden, sie lesen Heidegger und diskutieren darüber. Die Treffen finden in Reinhards Wohnung statt, und wenn April zufällig dabei ist, sitzt sie mit Babs in der Küche. Die Männer bleiben unter sich, Mao der Kater wird in dieser Runde eher akzeptiert als eine Frau. April will aber unbedingt bei den Männern sitzen. Sie beginnt, Heidegger zu lesen, um mitreden zu können, und obwohl sie Wendungen wie» es west an «lächerlich findet, glaubt sie, das Gelesene zu verstehen. Beim nächsten Treffen sagt sie beiläufig etwas möglichst Tiefgründiges, und der Überraschungseffekt bleibt nicht aus. Reinhard sieht sie an, als hätte er Zahnschmerzen, Hans zeigt einen gewissen Stolz, schließlich ist sie sein Geschöpf, doch dann lachen die Männer prustend los, als wäre es ein Riesenwitz, dass ausgerechnet April den Namen Heidegger im Munde führt.