Ist was dran an dem Gedanken, kommentiert Hans hinterher, das mit der Begrifflichkeit der Zeit hat sie doch ganz gut ausgedrückt.
Ja, für eine Frau ganz gut, sagt Reinhard.
April weiß schon gar nicht mehr, was sie gesagt oder gemeint hat, natürlich ist ihr die Geringschätzung hinter dem scheinheiligen Lob nicht entgangen, trotzdem buhlt sie weiter um die Aufmerksamkeit der Männer.
Wenn April und Hans abends ausgehen, lassen sie Julius allein in der Wohnung zurück. Er ist inzwischen zwei Jahre alt. Hans erzählt ihm eine Gutenachtgeschichte, und dann ziehen sie los, egal ob der kleine Junge wach ist oder schläft, sogar wenn er weint, schreit, bettelt. In ihrem Freundeskreis ist es durchaus üblich, die Kinder nachts manchmal allein zu lassen, und wenn sogar Hans sich darauf einlässt, muss es doch in Ordnung sein — so täuscht April sich selbst, wenn sie Julius im Dunkeln zurücklässt.
Immer wenn sie daran denkt, die Fenster zu putzen, kommt ihr der Ausreiseantrag in den Sinn, und sie lässt es bleiben. In diesem Sommer tragen die jungen Frauen lange, bunte Gewänder. Weil es keine dünnen Baumwollstoffe zu kaufen gibt, hat Susanne Windeln verarbeitet und daraus die schönsten Hippiekleider genäht.
Kirchenglocken in der Ferne, ein lauer Wind, sonst regt sich nichts. Neben April liegt ein junger Mann auf der Wiese, sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig, sie streicht ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hat ihn am Vorabend kennengelernt, auf einer Performance, mitten im Trubel hat er einfach ihre Hand genommen und sie durch das Gedränge nach draußen gezogen. Stundenlang sind sie durch die Nacht gelaufen, ehe sie die noch immer sonnenwarme Wiese entdeckten. Was für ein schöner Morgen, sagt sie zu dem jungen Mann, der die Augen geöffnet hat und sie ansieht. Der junge Mann hat gerade seine Lehre als Werkzeugmacher beendet, er heißt August, sein rechtes Auge ist kleiner als das linke und sieht irgendwie traurig aus. Doch August ist alles andere als traurig, er sprüht geradezu vor Lebenslust, und sie fühlt sich neben ihm schon uralt, mindestens dreißig. Was für ein schöner Morgen, sagt nun auch August und küsst sie.
Sie will ihn mit ihrer Lebenserfahrung beeindrucken, doch sie war und wird nie so jung sein wie August, der die Arme hochreißt und sich streckt, als könnte er den Himmel mit links erreichen.
Er hat seine Wohnung gerade erst bezogen, auf dem Flur riecht es nach Räucherstäbchen, an der Wand prangen Fotos von nackten jungen Frauen in bescheuerten Posen — sie ist sofort eifersüchtig. Ein paar Tage später nimmt er die Fotos ab und hängt dafür Drucke alter Meister auf, einen Franz Hals, die sixtinische Madonna.
August ist Bassist und Sänger in einer Punkband, die Namen der Band wechseln ständig, seit Kurzem heißt sie Augustapril. Sie begleitet ihn gern zu seinen Auftritten, in Parkanlagen, Abrisshäusern oder stillgelegten Bahnhöfen. Seine Art zu singen oder singend zu brüllen versetzt ihr ein leichtes Beben im Unterleib, gleichzeitig löst seine Ungehemmtheit Neid in ihr aus: Nie wird sie so lässig sein können.
12
Eingabe um Eingabe an Honecker, Genscher, an all die Herren von Wichtigkeit.
Der Beamte gibt ihnen zu verstehen, dass sie niemals in den Westen ausreisen dürften, eher würde die Erde eine Scheibe werden; jeden Einwand schneidet er mit einem» Nein «ab. Nein, gibt es nicht, da haben wir uns beim Klassenfeind wohl falsch informiert?
In einer neuen Ausgabe vom» Anschlag «setzt April ein Zitat von Voltaire auf die erste Seite:»In manchen Ländern hat man angestrebt, dass es einem Bürger nicht gestattet ist, die Gegend, in der er zufällig geboren ist, zu verlassen. Der Sinn dieses Gesetzes liegt auf der Hand, das Land ist so schlecht und wird so schlecht regiert, dass wir jedem verbieten, es zu verlassen, weil es sonst die ganze Bevölkerung verlassen würde.«
Die Herausgabe ihrer Untergrundmappen ist für sie bisher ohne Folgen geblieben, was April in ihrer Annahme bestätigt, dass die Stasi-Geschichten übertrieben, wenn nicht gar erfunden sind, obwohl es zu einigen durchaus bedenklichen Begegnungen kommt. So wird sie auf der Straße von einem Mann angesprochen, der sie gerne fotografieren möchte, sie habe ein so schönes Lächeln. Wenn er ihre Augen oder ihre Haut gepriesen hätte, wäre sie ihm vielleicht auf den Leim gegangen, aber ihr Lächeln, das weiß sie genau, ist alles andere als schön; es ist gezwungen, vorsichtig, wie auf dem Sprung.
Ein anderer Mann kommt ins Museum und bietet ihr in seinem Lehrlingswohnheim eine Lesung an, er habe gehört, sie schreibe Gedichte und Erzählungen. Es ist ihre erste Lesung, die fünf Jungs, die ihr zuhören, sind angehende Elektriker, und sie kichern wie Mädchen. Sie legt den nötigen Ernst in ihre Stimme, doch die Jungs interessieren sich mehr für die Limonade und das Süßzeug, das sie als Bestechung fürs Zuhören erhalten haben. Nach der Lesung steckt der Mann ihr fünfzig Mark für ihre Mühe zu, nimmt sie vertraulich zur Seite und sagt: Traurige Gedichte, die Sie da schreiben, ich hoffe, ihre Einstellung zum Staat ist nicht ganz so traurig. April überlegt, wie oft er diese Sätze geprobt hat, ob auch andere Sätze zur Auswahl standen. Die fünfzig Mark sind immerhin eine Überraschung, da will sie ihm und der Stasi etwas bieten: Sie plane ein Attentat auf Ronald Reagan, den ultimativen Rausch für alle, FKK-Verbot für Funktionäre, und erst als der Mann hörbar nach Luft schnappt, beendet sie ihre Aufzählung mit dem Hinweis, dass sie sowieso an die Elfenbeinküste auswandern wird. Verstehen Sie, das Leben ist nicht traurig und meine Einstellung auch nicht, sagt sie, es gibt viel zu tun. Später überlegt sie, warum sie überhaupt eingeladen wurde, wegen dem Ausreiseantrag, der Untergrundmappe oder einfach, weil sie kein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist?
Als sie Susanne davon erzählt, lachen sie sich schlapp, Hans ermahnt April zur Vorsicht. Sie berichtet auch anderen von ihrer Begegnung: Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, Kontakte mit der Stasi sofort zu verbreiten.
Die kleine Frau mit der Warze taucht erneut im Museum auf, um ihren Status als Verrückte zu überprüfen. April lässt sie kaum zu Wort kommen, redet wie David von Farben, in ihrem Gehirn sei ein Farbsturm ausgebrochen, Aquamarin würde Zinnoberrot bekämpfen, und auf die Frage der Frau, wie sie sich fühle, antwortet sie: rabenschwarz. Noch während sie ihre kleine Vorstellung abliefert, behält sie im Hinterkopf den Gedanken, dass sie nicht übertreiben darf, denn wenn ihre Verrücktheiten ernst genommen werden, könnte sie in der Klapse landen, vielleicht sogar in der Geschlossenen.
Sie schenkt August zwei winzige Goldfische, die in einem gläsernen Weinballon schwimmen. Sie schickt ihm Telegramme mit Liebesgedichten und ihren Treffpunkten. Sie verschickt auch Telegramme an Freunde, mit scheinbar verschlüsselten Botschaften, und das nur, um sich über die Stasi lustig zu machen. Sie lernt einen Journalisten aus München kennen, der geradezu hingerissen ist von den vermüllten Straßen, dem Dreck, der Wäsche vor den Fenstern. Sie zweifelt an seinem Verstand. Das gefällt dir, fragt sie, und versucht mit Blick auf die grauen, ramponierten Mietshäuser zu erkennen, was sein Entzücken rechtfertigen könnte. Das ist wie in Venedig, ruft er und wirft vor Begeisterung die Arme in die Luft. Venedig hat sie sich ganz anders vorgestellt. Alles ist so echt, sagt er, unverfälscht und einfach, Kaffee und Bockwurst, eure Gastfreundschaft; man hat das Gefühl, in eine Wirklichkeit einzutauchen wie sonst nur noch bei den Russen.