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Sie bittet ihn, ihr blaue Haarfarbe zu schicken, wenn er wieder in München ist; und auf wundersame Weise passiert das Päckchen tatsächlich alle Kontrollen. Sie lässt sich die Haare raspelkurz schneiden und sprüht sie mit metallblauer Farbe ein. Menschen bleiben bei ihrem Anblick stehen, deuten mit dem Finger auf sie, sogar Julius zeigt sich befremdet, als wäre ihr Auftreten unangemessen. Er wünscht sich eine normale Mutter, das spürt sie, normal mit allem, was dazugehört, verlässlich und anwesend, eine Mutter, bei der er nicht versuchen muss, Zeichen zu deuten.

Inzwischen erträgt sie es kaum noch, wenn Hans sie ständig korrigiert. In ihrer Wahrnehmung reagiert er wie ein Hund, der sofort seine Spur auf jeden ihrer Gedanken setzen muss. Wenn sie sich streiten, bleibt er stoisch, lässt ihre Vorwürfe an sich abprallen, am liebsten würde sie ihre Zähne in seine versteinerten Schultern schlagen. Sie sind beide durchdrungen von Starrsinn, Abscheu und einem Rest Liebe, stoßen sich gegenseitig ab und kommen dennoch nicht voneinander los. Sie fragt sich, warum sie mit ihm ausreisen soll und nicht mit August oder allein mit Julius.

Oft betrachtet sie Julius und denkt, sie müsste ihn mehr lieben. Einmal, an einem Sonntagmittag, schneidet er sich, während sie schläft, mit einer Nagelschere den Pony bis zum Haaransatz ab, setzt einen Hut von Hans auf und geht heimlich hinunter auf die Straße. Als sie ihn nach langem Suchen in einer Seitenstraße vor einem Schaufenster entdeckt, erkennt sie ihn zuerst nicht, sie sieht einen kleinen Fremden, der nichts mit ihr zu tun hat.

Freunde, Künstler, die April über die Arbeit für ihre Untergrundmappe kennengelernt hat, wollen während der Dokumentarfilmwoche gemeinsam vor dem Kino» Capitol «demonstrieren. Warum und wofür, fragt April, und aus den Antworten meint sie zu erkennen, dass es ihnen selbst nicht so klar ist: Für den Frieden, sagt eine schwangere Frau; Gerechtigkeit, sagt Susanne; warum nicht, sagt ein Maler. Frieden, welcher Frieden? Obwohl April das ziemlich kindisch findet, geht sie hin, mit einer Kerze, versteckt im Hosenbund. Sie wird von Polizisten angehalten, die wissen wollen, was sie in der Innenstadt vorhat:»Sie «wissen also Bescheid. Susanne sitzt neben der schwangeren Frau und den anderen in einem kleinen Kreis vor dem Kino, sie halten brennende Kerzen in den Händen und schweigen. April bringt es nicht fertig, sich zu ihnen zu setzen, die ganze Aktion ist ihr zu pathetisch. Sie beobachtet, wie die Menschen überrascht stehen bleiben, ein Raunen breitet sich aus. Dann aber erscheinen plötzlich zwei Männer, springen in den Kreis, einfach so, und versuchen die Kerzen auszutreten. Die Männer sind wie normale Büroangestellte gekleidet und ihre Bewegungen wirken verkrampft. Wortlos zünden Aprils Freunde die Kerzen wieder an, reagieren nicht auf die provozierenden Sprüche, sie seien asozial und arbeitsscheues Pack. Die beiden Männer werden zunehmend nervös, trampeln wütend umher. Während Susanne und die anderen weiterhin still und gelassen ausharren, als hätten sie ein Schweigegelübde abgelegt, ist April aufs Äußerste angespannt. Ein großer Armeelaster hält vor dem Kino, Uniformierte springen heraus und rennen auf ihre Freunde zu, versuchen sie an Haaren, Armen, Beinen fortzuzerren. Noch mehr Uniformierte kommen angerannt, und als sie sieht, wie einer von ihnen auf die schwangere Frau einprügelt, ist April nicht mehr zu halten, sie springt dem Uniformierten auf den Rücken und verbeißt sich in seinem Nacken. Sie schlägt, kratzt, tritt, verliert sich in einem Wirbel aus angestautem Zorn, bis sie taumelnd zu Boden geht. Ihr Kopf dröhnt, ihre Unterlippe ist aufgeplatzt, mühsam rappelt sie sich auf und läuft davon. Sie läuft und läuft, findet sich am Ende in einem ihr unbekannten Viertel wieder.

Am nächsten Morgen ist sie noch immer außer Atem. Die Erlebnisse vom Vorabend kommen ihr unwirklich vor, doch ihr demoliertes Gesicht im Spiegel sagt etwas anderes. Hans reagiert kühl, du hast eine Familie, sagt er, sei vorsichtig, und was nützt uns der Ausreiseantrag, wenn du im Knast landest.

Später erfährt sie, dass Susanne und die anderen in Untersuchungshaft sitzen, und ihre Stimmung schlägt in Entsetzen um. Sie haben nur eine Kerze angezündet, nur eine Kerze.

Sie muss unbedingt mit jemandem darüber sprechen. Sie sagt Hans nichts davon, dass sie zu Silvester nach Naumburg fahren wird. Sie nimmt die oft benutzte Ausrede, dass sie bei einer Freundin übernachtet.

Sie sieht durch das Abteilfenster zerklüftete Berge an sich vorbeiziehen, Bäume mit Laub aus rostigem Gold, Fichten auf schiefergrau glänzenden Hängen, dazwischen kleine Gehöfte, das Wort Heimat kommt ihr in den Sinn.

Silvester wohnt unter dem Dach eines Abrisshauses. Er ist längst informiert über die Kerzenaktion vorm Kino, er war sogar eingeweiht. Silvester plant, sich öffentlich anzuketten und tagelang zu hungern, bis alle wieder frei sind. April ist befremdet, ihn so reden zu hören; sie würde zwar gern dazugehören, aber es käme ihr wie Betrug vor, sie würde sich dabei selbst nicht ernst nehmen.

Abends besuchen sie einen Musikprofessor, in dessen Wohnung sich Studenten treffen, um Musik zu hören und darüber zu reden. Diesmal ist Schönberg dran, und nachdem die letzten Töne verklungen sind, diskutieren sie mit großer Ernsthaftigkeit über Wahrheit und Disharmonie.

Am nächsten Morgen fährt sie mit Silvester nach Leipzig zurück. Sie stellen sich vor das Gebäude, in dem sie die Verhafteten der Kerzenaktion vermuten. Silvester hält ein Feuerzeug hoch, knipst die Flamme in unregelmäßigen Abständen an und aus, er morst. Als sie ihn fragt, was er morst, sagt er: Würde, das Wort Würde. Es kommt ihr falsch vor, dass sie sich in Freiheit befinden und dieses Wort morsen, während die anderen nur zusehen können. Würde ist ein zu großes Wort für den, der draußen steht.

Nun hat auch Babs einen Ausreiseantrag gestellt — es scheint ansteckend zu sein. Ihr Vater wurde sofort von seinem Schiff aus Kanada eingeflogen, natürlich darf er nicht mehr als Kapitän arbeiten. Obwohl Babs mit dieser Art von Sippenhaft gerechnet hat, ist sie am Boden zerstört. Für ihren Vater hat die Hochseefischerei alles bedeutet, und ein treuer Parteigenosse ist er auch stets gewesen.

Ein Beamter fordert Hans ganz unverblümt auf, ihn mit seinen Anträgen zu verschonen und sich vorzusehen, nachts allein auf der Straße, er könne sonst einfach tot umfallen.

Die Teilnehmer der Kerzenaktion sind zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Diese Entscheidung kommt April nicht nur unangemessen, sondern auch hirnverbrannt vor: Eine solche Strafe muss doch jeden noch so großen Kindskopf zwangsläufig zu einem Revolutionär machen. Sie will Susanne besuchen, doch sie wird nicht vorgelassen.

April ist so wütend, dass sie wieder zu klauen beginnt. Sie hatte Hans zuliebe damit aufgehört. Nun fühlt sie sich ruhiger, fast entspannt, wenn sie den Konsum vollgepackt verlässt, mit Brot, Butter, Käse, allem, was sie zum Leben brauchen. Sie klaut wie ein Weltmeister und rechtfertigt ihr Verhalten damit, dass sie aus diesem Land nicht rauskommt.

Die Arbeit am» Anschlag «führt sie ohne Susanne fort, sie schreibt ihrer Freundin lange, ausführliche Briefe.

Damit hat April nicht gerechnet: Sie ist für die Aufnahmeprüfung im Literaturinstitut zugelassen worden. Das hält sie zunächst für eine Finte, denn natürlich wird man dort von ihrem Ausreiseantrag wissen. April wird so oder so in den Westen gehen, und das gibt ihr ein Gefühl von Überlegenheit, auch wenn sie der Prüfung entgegenfiebert. Zehn Sätze, die sich ein sozialistischer Schriftsteller über den Schreibtisch hängen sollte — so lautet die Prüfungsfrage. Der Raum sieht aus wie ein Klassenzimmer, die Luft ist zum Schneiden, ungefähr zwanzig Leute sitzen an schmalen Zweiertischen. Aprils Nachbarin ist eine ältere Frau, die sofort nach dem Startzeichen zu schreiben beginnt. Als April auf deren Blatt linst, rückt die Frau von ihr ab, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Natürlich ist sie keine sozialistische Schriftstellerin, und Sätze über dem Schreibtisch findet sie ohnehin dämlich. Durch das offene Fenster dringt das Pfeifen der Stare. April kann einen riesigen Schwarm erkennen, der sich auf einer Rotbuche versammelt hat, es klingt für sie, als wollten die Vögel ihr etwas zurufen, spett, spett, ein Donnergesang aus tausend Kehlen — der Gesang legt sich über die zäh vergehenden Minuten, sie muss an Trakl denken, den sie gerade liest, was hätte der geschrieben? Ihr fällt nichts ein, sie gibt nur leere Blätter ab.