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In den ersten Wintertagen schenkt August ihr den Sommer. Er hat die Wände seiner Wohnung mit bunten Blumen bemalt, auf dem Boden stehen Topfpflanzen, er hat sogar Erdbeeren aufgetrieben, Erdbeeren im Winter, das grenzt für sie an Zauberei. Sie lieben sich unter der knisternden Heizsonne. Es fällt ihr nach wie vor schwer, Begehren oder Freude zu zeigen. Ihr ist eher nach Heulen zumute, der Teppich kratzt an ihrem Rücken, sie liegt angespannt da, sieht durch das Fenster die Umrisse einer schneebeladenen Kiefer und ächzt laut auf, als wäre sie der Baum mit seiner kalten Last.

Wenn sie sich streiten, nimmt April das Glas mit den Goldfischen und verschwindet, doch sie kommt immer wieder. Seine Punkband heißt längst nicht mehr Augustapril. Läuft es eine Weile gut, wird sie misstrauisch, fordert ihn so lange mit ihren Provokationen heraus, bis die Fetzen fliegen und sie sich wieder auf vertrautem Terrain befindet.

Der Schnee glänzt einen Augenblick lang wie frisch lackiert, ehe er grau wird, so grau wie der Himmel. April macht sich jedes Wochenende auf den Weg ins Museum, weil sie nicht mehr weiß, ob sie den Heizschuh ausgeschaltet hat oder nicht. Der Anflug von Panik weicht Erleichterung, wenn sie aus der Straßenbahn steigt und das Museum wohlbehalten vorfindet. Es ist ein Teil ihrer Routine, die sie die Tage verbringen lässt, als hätte es nie einen Ausreiseantrag gegeben.

Der Sicherheitsbeamte des Museums bittet die Mitarbeiter einzeln zu sich. Als April ihm gegenübersitzt, starrt sie gebannt auf sein dünnes Haar, die Kopfhaut darunter zuckt. Herr Blümel kommt ihr in den Sinn, sie sollte sich bei ihm melden, denn sie hat gehört, dass Vitaminmangel so ein Zucken auslösen kann. Erst nach einer Weile begreift sie, was der Sicherheitsbeamte ihr mitteilen wilclass="underline" Im Falle einer Havarie, einer Naturkatastrophe oder beim Ausbruch des dritten Weltkrieges sei sie für die Evakuierung bestimmter Objekte aus dem Bereich Südostasien verantwortlich. Ein Bote würde sich bei ihr melden, sollte es zu einer dieser Heimsuchungen kommen, und ihr das Codewort sagen. Der Sicherheitsbeamte verstummt und sieht sie lange an. Das Codewort, fährt er fort, sei nur für ihre Ohren bestimmt und natürlich für die des Boten. Dann sagt er: Alpha drei, und seine Stimme klingt, als würde er beten, Alpha drei, bitte nicht vergessen, und behalten Sie es auf jeden Fall für sich.

Zunächst ist sie verunsichert, ihre Kollegen ebenfalls, sie wechseln betretene Blicke, niemand spricht die Sache an. Auch Hans weiß sich darauf keinen Reim zu machen. Heimsuchung? Dritter Weltkrieg? Alpha drei? Sie fragt sich, ob tatsächlich eine reale Gefahr besteht, doch nichts deutet darauf hin, auch in den Westnachrichten nicht. In der Nacht läuft sie schlaflos durch die Wohnung, sitzt am Bett von Julius, lauscht seinen Atemzügen. Doch bei Tageslicht erscheint ihr die ganze Angelegenheit eher lächerlich und nach genauerer Überlegung regelrecht verrückt.

In der Mittagspause bleibt sie am Eingang der Kantine stehen, betrachtet den Direktor, den Sicherheitsbeamten — die ganze Besatzung sitzt rauchumwölkt beim Kaffee. Sie ruft dem Sicherheitsbeamten laut zu: Alpha drei, ich grüße Sie. Es wird still, und sie wiederholt laut und deutlich: Alpha drei. Das ist mein Codewort, ich habe es nicht vergessen.

Nach diesem Vorfall bestellt der Sicherheitsbeamte wieder jeden Mitarbeiter einzeln in sein Zimmer und erklärt die Aktion für abgeblasen. April wird als Einzige nicht einbestellt; ihr Status als Verrückte erweist sich ein weiteres Mal als Schutz.

Der Frauenarzt hat ihr eine Kur in Karlovy Vary verschrieben, dort könne sie ihren Unterleib wieder auf Vordermann bringen. Er sagte wortwörtlich: Vordermann.

Während der Zugfahrt gießt es in Strömen, sie kommt sich ganz aufgeweicht vor, obwohl sie im Trockenen sitzt. Kaum hat sie sich in der Klinik angemeldet, bekommt sie ihr Zimmer zugewiesen und muss gleich zur Blutabnahme. Im Untersuchungsraum versucht sie, ihr Unbehagen mit einem Scherz zu überspielen, doch die junge Schwester sagt nur: Stillhalten, bindet April den Oberarm ab und betupft ihre Armbeuge mit einem feuchten Wattebausch. Ihr tschechischer Akzent erinnert April an die Stimme aus einem Märchenfilm. Sie dreht den Kopf weg, spürt einen Piekser, die Schwester zerrt an ihrem Arm herum, klopft auf die Haut, nimmt sich den anderen Arm vor — vergebens.

Sie haben Angstvenen, sagt die Schwester, die rollen einfach weg.

Angstvenen, fragt sie.

Es gibt Schlimmeres, sagt die Schwester.

April wird zum Arzt geschickt, er möchte sie sprechen. Der Name des Arztes lautet Dumas. Sie wagt nicht zu fragen, ob er mit dem Schriftsteller verwandt sei.

Sie sind ja nur Haut und Knochen, sagt er, keinen Appetit?

Sie beantwortet folgsam seine Fragen. Sie sei immer so dünn, egal, wie viel sie esse, in der Regel schlafe sie sechs Stunden, ja, sie sei Raucherin, eine Geburt ohne Komplikationen, von Allergien wisse sie nichts.

Dr. Dumas blättert ihre Akte durch, dann sieht er sie an und sagt, wir werden Sie aufpäppeln, eine Hormonkur, Muskelaufbau, wir werden eine richtige Frau aus Ihnen machen.

Eine richtige Frau, fragt sie.

Eine mit allem, was dazugehört, sagt er.

Sie zuckt fragend die Schultern, spürt ihre Wangen rot werden.

Na, was wünschen Sie sich denn?

Sie weiß nicht, ob sie ihn ernst nehmen kann. Was soll sie sagen? Mit einer solchen Frage hat sie nicht gerechnet.

Typisch Frau, sagt er und lacht laut, wenn es darauf ankommt, habt ihr keine Worte.

Sie geht in ihr Zimmer und ist gerade dabei, ihre Tasche auszupacken, als die junge Schwester atemlos die Tür aufreißt und sagt, sie solle sich sofort noch einmal im Sprechzimmer melden.

Dr. Dumas sitzt hinter seinem Schreibtisch und bietet ihr nun den Sessel vor dem Fenster an. Er teilt ihr mit, dass ihr Ausreiseantrag bewilligt wurde und sie unverzüglich nach Hause zu reisen habe.

Sie ist verwirrt, fragt nach, ob es sich vielleicht um einen Irrtum handelt.

Den Anruf habe er gerade aus Berlin erhalten, vor drei Minuten, vielleicht auch vier.

Dass ausgerechnet ein Dr. Dumas ihr die Nachricht übermittelt, mutet April wie ein Wunder an. Doch warum überhaupt die Fahrt nach Karlovy Vary? Ist das alles, was» sie «ihr antun können, eine mickrige Verunsicherung?

Im Zug fühlt sie sich, als hätte sie einen Einberufungsbefehl erhalten oder wäre aus heiterem Himmel von einem Ballspiel ausgeschlossen worden. Vielleicht hat sie nie damit gerechnet, dass ihre Forderung erfüllt wird. Sie steht am Fenster, starrt auf eine Wand aus Dunkelheit. Ihr geht durch den Kopf, dass sie nun nicht dicker, keine richtige Frau werden wird, ohne Trainingshosen. Sie hätte sich so gern aufpäppeln lassen.

13

Babs und Reinhard helfen bei den Umzugsvorbereitungen. Bücher müssen aufgelistet, jeder Gegenstand sorgfältig beschrieben werden.

Den genauen Termin werden Sie noch früh genug erfahren, das höhnische Lächeln des Beamten ist diesmal verrutscht.

Reinhards Behördengänge sind bisher erfolglos geblieben, obwohl er seinen Ausreiseantrag viel früher gestellt hat. Ich komme mir vor wie auf einem Abstellgleis, sagt er.

Die Wintertage ziehen sich, auf den Bordsteinen Schneematsch, Berge von Dreck. April sitzt gerade in der Straßenbahn, als sie glaubt, ihren Vater vor dem Bäckerladen stehen zu sehen. An der Haltestelle steigt sie aus und läuft zurück. Sein Anblick überrascht sie so sehr, dass sie auf ihn zustürzt und ihn wortlos umarmt. Ihr Vater braucht eine Weile, ehe er begreift, wer da vor ihm steht. Doch dann erkennt er sie, du bist es, sagt er, meine Tochter, dass ich das noch erlebe. Einer seiner üblichen Sprüche, denkt sie, doch das kann ihre Wiedersehensfreude nicht trüben. Sie müsse sich unbedingt seine neue Wohnung ansehen, sagt er, und sie willigt ein, nimmt unter dem dünnen Regenmantel seinen Altmännerbuckel wahr, die gealterte Leidensmiene, und schon fängt er mit den üblichen Geschichten an, als müsse er den Raum zwischen ihnen ausfüllen. Seine Wohnung macht einen sauberen Eindruck, das registriert sie sofort, auf dem Sofa zwei Kissen mit einem Knick, neben dem Relief einer barbusigen Schönheit hängt ein Kunstdruck von Van Goghs Sonnenblumen, auch die Küche ist aufgeräumt. Doch hinter dieser Ordnung meint sie die Anstrengung ihres Vaters zu spüren, nicht bloß zu existieren, ein Quäntchen Freude zu empfinden, und die allergrößte Anstrengung: nicht über den Rand der Welt zu kippen. Es kostet ihn Kraft, das durchzuhalten, das weiß sie genau, aber eines Tages wird er die ganze mühsam aufgerichtete Fassade wieder einreißen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche — es braucht nur den richtigen Auslöser, um den Säufer und Zerstörer zurück ans Ruder zu lassen.