Setz dich, sagt er, wohin du willst. Auf das Sofa? Oder lieber auf den Stuhl? Ich hab noch Suppe von gestern.
Danke, ich hab schon gegessen, sagt sie.
Er zündet sich eine Zigarette an und erzählt ihr, dass er täglich spazieren gehe, bei Wind und Wetter, trinken erst ab siebzehn Uhr, bis dahin keinen Tropfen, und er lese wieder, bilde sich. Als er von ihrer Mutter reden will, unterbricht sie ihn.
Hast du eine Arbeit, fragt sie.
Ihr Vater wischt die Frage mit einer Handbewegung beiseite, die kriegen mich nicht, sagt er, und sie hat eine ungefähre Vorstellung, was er damit meint.
Er öffnet seinen Schrank, und als er das Gesuchte findet, reicht er ihr einen Umschlag. Hab ich aufgehoben, sagt er.
In dem Umschlag befindet sich eine herausgerissene Schulheftseite, an den Kanten schon brüchig, doch sie erkennt ihre Kinderschrift: Lieber Vater, steht da, wenn du mich nicht endlich holen kommst, werde ich Flaschen sammeln und von dem Geld nach Amerika abhauen. Oder willst du mich nicht?
Er stellt ihr sonst keine Fragen, und sie erzählt ihm nichts von Julius oder ihrer Ausreise. Als sie ihm zum Abschied sagt: Ich komme bald wieder, ist das vollkommen aufrichtig gemeint.
Sie erhalten den endgültigen Termin für ihre Ausreise. Noch achtundvierzig Stunden, dann müssen sie das Land verlassen. Der Teddy von Julius sitzt reisefertig neben seinem kleinen Koffer. Hans hat sich den Bart abrasiert. Nur sie hat nicht das Gefühl, dass etwas zu Ende geht. Sie will die verbleibende Zeit sinnvoll nutzen und rennt doch nur kopflos durch die Gegend, mit einem flauen Gefühl im Bauch.
Sie will August einen Abschiedsgruß hinterlassen, etwas, das ihn an sie erinnern soll. Mit ihrer letzten Dose blauer Haarfarbe geht sie die Wege in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ab, entdeckt eine geeignete Hauswand in Sichtweite seiner Wohnung. Zuerst fällt ihr keine Botschaft ein, dann entscheidet sie sich für ihre Glückszahlen und sprüht 7 x 34 an die Wand. Sie versucht sich noch an einem kleinen Schiff, das vom Himmel fällt. Sie tritt zurück, begutachtet ihr Werk, und noch während sie sich den überraschten August vorstellt, hört sie Geräusche hinter sich, ein Auto hält, Türen werden zugeschlagen, sie spürt, noch ehe sie sich umdreht, dass etwas nicht stimmt. Sie hat den Impuls wegzulaufen und dreht sich dennoch um, Uniformierte stehen hinter ihr. Der Schreck fährt ihr mit aller Wucht in die Glieder, sie begreift sofort, was sie da verbockt hat, und versucht verzweifelt, das Ganze als Scherz auszugeben. Es ist ein Liebesgruß, sagt sie, das lässt sich leicht wieder wegwischen, da genügt ein Eimer Wasser und eine Bürste. An den Mienen der Uniformierten kann sie jedoch ablesen, dass Wegwischen keine Option ist. Aschfahl steigt sie in das Polizeiauto, und auf dem Revier sitzt sie starr vor Entsetzen, wiederholt ihre Worte gebetsmühlenartig: Sie gehöre keiner Gruppe an, es sei das erste Mal, dass sie eine Wand besprüht hat — am liebsten würde sie ihre Hand zum Schwur heben. Das Verhör dauert Stunden, ihre Panik wächst, sie muss nach Hause, sie hat keine Ahnung, ob die Polizisten über ihre Ausreise Bescheid wissen, soll sie es ansprechen oder nicht? Von draußen schwappt Dunkelheit durchs Fenster. April sitzt in einer Blase, die größer und größer wird, bis sie zerplatzt. Dann spricht sie es aus, und die Polizisten starren sie an, als wäre sie eine entlaufene Irre. Was? Ein genehmigter Ausreiseantrag? Morgen ist Ihre Ausreise? Die Stimmen der Polizisten umkreisen April, warum sie das nicht eher gesagt habe? Sie muss sich Mühe geben, nicht gleich loszuheulen. Sie verbietet sich, an Hans oder Julius zu denken, sie denkt nur: Es ist schlimm, es ist richtig schlimm. Aber dann darf sie gehen. Verschwinden Sie, hauen Sie ab, zieh’n Sie Leine, knurrt der Polizist. Selbst draußen auf der Straße kann sie es nicht fassen: wieder einmal davongekommen. April wandert ziellos umher und fühlt sich, als wäre sie zu lange unter Wasser gewesen. Sie geht in die Hocke, legt den Kopf auf die Knie, spürt ihr Herz hämmern und atmet tief aus. Als sie den Kopf hebt, sieht sie auf der anderen Straßenseite ein Tier — eine Katze oder einen Marder? Als es näher kommt, erkennt sie einen Fuchs. Er überquert die Straße und bleibt ein paar Schritte von ihr entfernt stehen. Sie versucht sich zu erinnern, was sie in Brehms Tierleben über Füchse gelesen hat, vergeblich. In ihrem Kopf herrscht Leere. Dann setzt sich der Fuchs wieder in Bewegung, ganz gemächlich, wechselt die Richtung und biegt in eine Seitengasse ein.
April verabschiedet sich auf dem Bahnsteig von Freunden und Bekannten. Sie kommt sich vor wie eine Marionette: Auf Wiedersehen, ich melde mich, tschüss, mach’s gut, als hätte sie nur einen langen Urlaub vor sich. Sie verspricht August, sich mit ihm in Prag zu treffen. Auch Hans nimmt von seinen Freunden Abschied, und als er anschließend August die Hand reicht, scheint er immer noch keinen Verdacht zu hegen. Der Zug fährt ab, April will nicht losheulen, und deshalb zerlegt sie ihre Freunde auf dem Bahnsteig in Einzelteile. Sie lächelt und winkt zum Fenster heraus, während Irma wie eine vertrocknete Hummel auseinanderfällt, Silvesters Innereien sich auf dem Boden verteilen und August auf blutigen Kniestümpfen umherhüpft, ohne Arme und ohne Kopf.
Hans und Julius haben ein freies Abteil gefunden, sie bleibt auf dem Gang und zieht das Fenster herunter, hält den Kopf in den Fahrtwind. Sie versucht sich die Landschaft einzuprägen, als wäre die Erinnerung bald das Einzige, auf das sie zurückgreifen kann. Sie muss daran denken, wie ihr Vater erzählt hat, dass er und somit auch sie mütterlicherseits von Störtebeker abstammen würden und väterlicherseits von einem berühmten Husaren, einem Teufelskerl ohnegleichen, dessen Name ihm nie einfiel. Ob ihr Vater auf sie warten wird, auf ihren Besuch? Sie denkt an Schwarze Paul, an Sputnik, sie nimmt sich vor, ihnen zu schreiben.
Der Himmel ein stählernes Blau, ferner noch als sonst. Sie versinkt in dem rhythmischen Rattern des Zuges, ihre Augen tränen vom Fahrtwind. Eine einzelne Birke auf einer Schotterhalde erscheint ihr so deplatziert wie sie selbst. Erschöpfung übermannt sie wie Schlaf, sie weiß nicht, wie lange sie so dasteht, und als zwei Grenzbeamte sich nähern, verspürt sie zuerst das übliche Unbehagen, dann bloße Angst; in ihrem Koffer sind die Untergrundmappen versteckt. Die Grenzbeamten, ein Mann und eine Frau, folgen ihr ins Abteil. April versucht, Julius’ erschrockenes Gesicht auszublenden. Sie setzt sich an den Fensterplatz. Während die Grenzbeamten ihre Sachen filzen, verliert sich ihr Blick im dunstigen Tageslicht, dann beginnt sie, die Wagen eines Güterzugs zu zählen, der in die Richtung fährt, aus der sie kommt, in ihre Heimat, Nicht-mehr-Heimat. Sie reicht der Grenzbeamtin ihre Entlassungsurkunde und schaut wieder aus dem Fenster, sie muss daran denken, dass der Westen für jeden DDR-Bürger, der ausreisen darf, eine Art Kopfgeld zahlt. Sie fragt sich, ob der Güterzug im Austausch für sie Kohlen transportiert oder gar ein Auto, wie viel mag sie wert sein?