Halten Sie Blickkontakt, sagt die Grenzbeamtin.
April bietet ihr ein demonstrativ steifes Lächeln, nimmt die Urkunde wieder entgegen, dreht sich erneut zum Fenster.
Blickkontakt! Der Ton der Grenzbeamtin ist eisig. Blickkontakt, wiederholt sie. April nimmt die offene Verachtung im Gesicht der Frau wahr und muss schlucken. Trotzdem wendet sie den Blick nicht ab, sieht die Grenzbeamtin direkt an, hält den Blickkontakt, bis die andere wegsieht.
Werd doch endlich mal erwachsen, sagt Hans, als sie wieder unter sich sind.
Sie sieht ihm die Erschöpfung an und schweigt. An der Grenze bleibt der Zug stehen, sie hören Hunde bellen, metallische Geräusche auf den Gleisen. Sie bewundert Hans’ Geduld, die rührende Fürsorge für seinen Sohn. Sie ist froh, dass Julius wenigstens in ihm ein funktionierendes Elternteil hat.
Komm her, sagt sie zu Julius, setz dich auf meinen Schoß. Sie spielen: Ich sehe was, was du nicht siehst. Als sie wieder fahren, bemerkt April nach einer Weile, dass die Atmosphäre sich verändert hat, sie erscheint ihr weniger bedrohlich. Die Zollbeamten aus dem Westen wirken verschlafen, freundlich, aber vielleicht sind sie auch nur gleichgültig, das kann April nicht richtig einschätzen.
Als der Zug in Westberlin hält, sehen sie einander an, ehe sie aussteigen; nun ist nichts mehr rückgängig zu machen, besagen ihre Blicke. Sie sind müde und gespannt zugleich. Auf dem Bahnsteig hat April das Gefühl, einen riesigen Lampenladen betreten zu haben, das grelle Licht schmerzt in ihren Augen. Sie meint die Stromleitungen summen zu hören, doch das Summen ist in ihrem Kopf. Zunächst bleiben sie alle drei unschlüssig stehen, Lichtkaskaden fallen auf sie herab.
Wie Weihnachten, sagt Julius.
Sie gehen einfach los, setzen Schritt für Schritt auf einen unbekannten Boden, es dauert Stunden, ehe sie sich ins Aufnahmelager durchgeschlagen haben. Sie bekommen ein Zimmer zugeteilt, fallen sofort ins Bett. Zerschlagen wacht April im Morgengrauen auf, Tausende Gedanken jagen ihr durch den Kopf, beherrscht von dem einen: Sie können unmöglich zurück. Dabei will April gar nicht zurück, aber sie weiß auch nicht, was sie hier soll. Sie sind in einem Zimmer mit zwei Doppelstockbetten untergebracht, es gibt dazu einen kleinen Tisch, zwei Stühle, ihre Koffer stapeln sich neben der Tür. Sie frühstücken in einem großen Saal, die Leute kommen ihr aufgescheucht vor, Westkaffee, hört sie, es gibt Westkaffee. April empfindet zu ihrem eigenen Erstaunen Widerwillen, es sind doch ihre Landsleute, ähnlich hilflos wie sie selbst.
Das erträumte Gefühl von Freiheit stellt sich auch in den nächsten Tagen nicht ein. Sie bekommen einen Laufzettel, auf dem ihre Stationen verzeichnet sind: Alliierte Sicherungsstellen, Sozialamt, Kleiderkammer, christliche Mission, Orte und Stellen, von denen sie noch nie gehört haben.
Nein, April kennt keine Militärgeheimnisse, hatte keinen Kontakt zum Politbüro, leider, hätte sie beinahe hinzugefügt, um den rothaarigen Amerikaner zu trösten, der einen weiteren missglückten Versuch abhakt, etwas über das Feindesland zu erfahren. Sie muss wieder an ihren Vater denken, der bestimmt die eine oder andere spannende Geschichte erfunden hätte, und empfindet ein flüchtiges Gefühl von Verlust. Immer wieder verstummt April mitten im Satz, als hätte ihre Sprache hier eine andere Bedeutung. Die Fragen, die ihr gestellt werden, hören sich falsch an.
Es kommt sogar vor, das sie ihren Namen vergisst, wenn sie einen der zahlreichen Anträge unterschreiben soll. Sie bekommt Hautausschlag, weiß bisweilen nicht, warum sie gerade ein Formular ausfüllt, und steht am Ende mit einem Staubsauger, Bettwäsche oder einer Bibel da. April wünscht sich das schmale grüne Büchlein zurück, in dem ihr bisheriges Leben verzeichnet war: Schule, Ausbildung, Krankheiten. Später wäre dort ihre Rente eingetragen worden und ihr Sterbedatum. Das Ausmaß an Bürokratie, dem sie sich ausgesetzt fühlt, löst bei ihr eine derartige Abwehr aus, dass ihr Körper regelrecht bockt. So läuft sie gegen eine Glastür und schlägt sich die Stirn auf, zerquetscht ihren rechten Zeh, rammt sich eine Gabel in die Hand, stolpert über einen Rehpinscher, der daraufhin seine spitzen Zähnchen in ihre Wade schlägt.
Doch es ist Julius, der ernsthaft erkrankt. Sie schleppen ihn überall mit hin, er wartet wie sie in kalten zugigen Korridoren und bekommt eine Lungenentzündung. Hans und sie bemerken das erst, als sein Fieber gefährlich gestiegen ist. Der Arzt verschreibt Antibiotika, und April sitzt nächtelang an seinem Bett, legt ihm Wadenwickel um, hört ihn im Schlaf mit den Zähnen knirschen. Es kommt ihr vor, als ob Julius an ihrer Stelle erkrankt wäre, einerseits, um sie zu entlasten, andererseits will er ihnen zeigen, dass er mehr Fürsorge braucht. Sie vertrösten ihn auf später, sie sind selbst so überfordert von dieser neuen Gegenwart, dass sie ihn nach seiner Genesung allein im Zimmer zurücklassen, wenn sie etwas zu erledigen haben. Bei ihrer Rückkehr erwartet sie meistens eine Überraschung: Julius wollte das Essen vorbereiten, er hat ihre Vorräte geplündert und auf dem Boden verstreut, ein anderes Mal hat er die Tapeten mit bunten Zeichnungen bemalt.
Die Auswahl in den Supermärkten erschlägt April, am liebsten würde sie sich nur von den Gläschen mit Seelachsersatz ernähren, sie schlingt das rötliche, öltriefende Zeug hinunter, bis sie nicht mehr kann. Julius wähnt sich im Schlaraffenland und lässt sich immer wieder neue Tricks einfallen, um etwas mitgehen zu lassen; an der Kasse unterzieht sie ihn stets einer Leibesvisitation.
Sie haben von einem Psychiater gehört, der den Ausgereisten aus dem Osten ohne viel Aufhebens einen Krankenschein ausstellt; das ist wichtig, um das Arbeitslosengeld, das sie später beziehen werden, zu verlängern. Der Warteraum ist überfüllt, die Dialekte sind April vertraut, und kurz glimmt ein Gemeinschaftsgefühl auf: Wäre alles wunschgemäß gelaufen, müsste keiner von ihnen in diesem Wartezimmer sitzen — aber immerhin, man hat es bis hierher geschafft.
April weiß nicht, ob und wie sie dem Arzt etwas vorspielen soll, doch als sie ihre Symptome aufzählt, stellt sie fest, dass sie tatsächlich nicht schlafen kann, dass ein Nebel ihr ständig den Blick verstellt. Nach ihren Erwartungen befragt, fällt ihr keine brauchbare Antwort ein; auch später nicht, als sie allein ist und sich selbst die Frage stellt.
Das Gesicht in ihrem neuen Ausweis ist April fremd. Besondere Merkmale: keine. Sie hat Heimweh. Immer wieder lässt sie Hans mit Julius allein und geht zum Grenzübergang. Immer wieder bekommt sie den Ausweis mit dem Argument zurück, sie sei eine unerwünschte Person. Auch wenn sie damit gerechnet hat, schnürt ihr die Enttäuschung die Luft ab. Der Ablehnungsstempel auf dem eingereichten Tagesvisum ist ein Dokument ihrer Demütigung. Eins, zwei, drei, vier und auf Wiedersehen. Sie wollen noch eine Demütigung? Bitte! April meint in den Gesichtern der Grenzbeamten Schadenfreude wahrzunehmen: Was, du willst hier rein? Erst raus und dann wieder rein? Pustekuchen, du Wurm. Du hast dein Land verraten.
Als sie das erste Krankengeld erhält, geht sie in einen Buchladen, der etwas versteckt neben einem Seitenausgang des Bahnhofs liegt, stöbert stundenlang herum, ohne zu wissen, ob sie in einer Art Vorhölle oder im Paradies gelandet ist. Die Vielzahl der vor ihr ausgebreiteten Schätze beunruhigt sie, wie soll sie hier eine Entscheidung treffen? Nach nächtelangem Grübeln kauft sie eine Werkausgabe von Beckett, in blaues Leinen gebunden, und ein Kinderbuch für Julius, das sie an ein Buch aus ihrer Kindheit erinnert.