Ihre anderen Putzstellen sind vergleichsweise normaclass="underline" Eine alte Frau im Rollstuhl beobachtet sie auf Schritt und Tritt, entdeckt selbst am makellos geputzten Fenster noch einen Fleck oder die Andeutung einer Schliere; eine andere Frau verdächtigt sie, eine kleine Figur aus Meißner Porzellan zerstört zu haben, Aprils Beteuerungen, die Figur sei schon kaputt gewesen, nützen nichts; ein Mann zahlt ihr den vereinbarten Lohn nicht aus, weil er sie plötzlich nur auf Probe haben will.
Auch der große, massige Mann lässt sie beim Putzen nicht mehr aus den Augen, verschwindet zwischendurch nur für ein paar Minuten, um Bericht zu erstatten, einmal bezeichnet er April als eine Dreckschleuder, ja, du hattest recht, sagt er, sie ist ganz und gar unzuverlässig, vergisst die Ecken, ein Ferkel, eine Dreckschleuder, hinterlässt nur eine einzige Sauerei.
Nach der Arbeit geht April spazieren, erkundet unbekannte Viertel und versucht, sich den anderen Teil der Stadt hinter der Mauer vorzustellen, versucht, die Straßen weiterzudenken, wo sie hinführen, wo sie enden. Sie steht neben Touristen auf einem Podest und schaut rüber in den Osten. Nichts, was ihr noch vertraut wäre. Die Bewegungen der Grenzsoldaten werden ihr erst jetzt in ihrer ganzen Gefährlichkeit bewusst, bis in den Gleichschritt hinein. Sie muss an David denken, an seinen Plan, mit einer Leiter Richtung Mauer zu gehen, um sich dort erschießen zu lassen, und sie begreift, wie wirklichkeitsnah seine Vorstellung war.
Sie läuft den Kudamm entlang, in einem Schaufenster jongliert eine halb nackte Eva mit Äpfeln, im Kaufhaus des Westens wird ihr übel von den Geruchsinvasionen, sie muss nach draußen, wo sie sich über einem Abfallkorb erbricht. Sie mag die Freiräume zwischen den Häusern, nutzlose Orte, die etwas Schwebendes haben, ein Trost für die Augen. Im Tiergarten sieht sie Menschen still dastehen, den Blick erhoben oder ins Leere gerichtet, andere boxen in die Luft oder rennen einsame Runden. Da, wo sie herkommt, wird Fußball gespielt, man geht mit Freunden schwimmen oder stellt sich am Ende einer Warteschlange vor dem Konsum an.
Frühmorgens fallen April die zerlumpten Gestalten auf, die vor dem Bahnhof liegen oder sitzen und gähnend auf die vorüberziehenden Schuhe starren, deren Besitzer zielstrebig zur Arbeit eilen. Auch sie ist Besitzerin solcher Schuhe — reine Glücksschuhe, in den Augen der Betrachter, für die April keine passende Bezeichnung weiß: Arbeitslose, Bettler, Penner, Habenichtse. Sie entschließt sich, denen etwas zu geben, die gar nichts besitzen, nicht mal ein Kunststück vorführen können. In einem der Bettler meint sie ihren Vater zu erkennen, doch beim näheren Hinsehen entdeckt sie nicht die geringste Ähnlichkeit.
15
April und Hans legen ihre Arbeitszeiten so, dass immer einer zu Hause bei Julius sein kann.
Seinen vierten Geburtstag feiern sie im Zoo.
Welches Tier möchtest du sein, fragt sie ihren Sohn.
Eine Muschel, sagt er. Und du, Mama?
Sie umarmt ihn, küsst ihn stürmisch. Ich? Ein Langschnabeligel. Sie hat die Abbildung in Brehms Tierleben noch genau vor Augen.
Wie sieht der aus, fragt Julius.
Auf den ersten Blick wie ein Elefantenjunges mit ganz vielen Stacheln. Und er hat eine dünne, lange Zunge, die man für einen Wurm halten könnte.
Julius nimmt ihre Hand und die von Hans, einen Augenblick lang wirken sie wie eine ganz normale, glückliche Familie.
Als April die stolpernde Gestalt das erste Mal sieht, kommt sie ihr wie ihr männlicher Zwilling vor. Nicht dass der Mann ihr ähnelte, es ist seine Art, sich zu bewegen: ein Dahintaumeln, Straucheln und Sich-Erheben. Obwohl er sehr dünn ist, wirkt es, als würde er von einer schweren Last niedergedrückt. Insgeheim nennt sie ihn Artur, sie kannte einmal einen herrenlosen Hund, der so gerufen wurde. Artur hat ein uraltes Kindergesicht, das er greinend verzieht, wenn sein Körper ihm nicht gehorchen will, wenn er springt, strampelt, boxt, mit einem einzigen Ausfallschritt die Grätsche macht. April würde am liebsten auf ihn zugehen und sagen: Lass doch. Sie sieht Artur täglich in der Markthalle, wenn sie am Gemüsestand steht oder beim Bäcker. Er zieht einen kleinen Wagen mit Kisten hinter sich her oder sammelt Abfälle ein, sie hat keine Ahnung, welche Stellung er hier hat, es ist, als gehöre er zum Inventar. Niemand nimmt Anstoß an seinen ausufernden Schritten und seinen übermütigen Sprüngen.
Julius spielt oft draußen, er hat Freunde in seinem Alter gewonnen. Er bringt einen verwahrlosten Hund mit nach Hause, eine hässliche Kreatur, die anderntags von selbst wieder verschwindet, dann schleppt er eine fette Katze an, die nachts in der Speisekammer sieben Junge wirft, der Katzenfamilie folgt eine Amsel mit gebrochenem Flügel. Ihr Sohn wird Experte für bedürftige Tiere, doch dann wendet er sich den Pflanzen zu, streut mit Saskia, einem Mädchen aus dem Haus, Sonnenblumenkerne im Vorgarten aus.
April kommt mit der Mutter des Mädchens ins Gespräch. Die junge Frau arbeitet in einer Bar und findet gerade keine Betreuung für Saskia, ob ihre Tochter bei Julius übernachten könne? Ja, warum nicht, sagt April, die sich über die neue Bekanntschaft freut. Marie, so heißt die junge Frau, erzählt mit tonloser Stimme von ihrem gewalttätigen Mann und ihrem Herzen, das keine Aufputschmittel vertrage, weswegen sie niemals Kaffee trinke oder Schwarztee.
April folgt schon bald Maries Einladung, sie in der Bar zu besuchen. Nach reiflicher Überlegung hat sie sich für ein grün-rot kariertes Männerhemd und ihre uralte Levi’s entschieden. Die Bar öffnet erst eine Stunde vor Mitternacht, und April ist der einzige Gast. Marie lächelt ihr hinter der Theke entgegen: Schön, dass du kommen konntest. Die Bar erinnert April — bis auf die Spiegelwand — an das ehemalige Wohnzimmer ihres Vaters, als er monatelang an der Ostsee kellnerte und sich in einem winzigen Kabuff aufhielt, mit verblichenen orangefarbenen Gardinen vor dem Fenster. So hat sie sich eine Bar im Westen nicht vorgestellt. Die Decke ist mit Wellblech verkleidet, die Theke aus hellblauem Sprelacart, aber die Getränke kosten laut Karte ein Vermögen. Das erste geht aufs Haus, sagt Marie. Doch April hat keine Ahnung, wie sie sich entscheiden soll, die vielen Namen auf der Karte, und dann die Preise dahinter.
Ich such dir was aus, sagt Marie und macht sich ans Werk. Sie schüttelt den Shaker wie eine Tänzerin und gießt die geheimnisvolle Mixtur in ein Glas, das sie mit einem Salzrand verziert. So etwas hat April noch nie gekostet, es schmeckt ganz anders als Wodka-Cola.
Nach und nach trudeln weitere Gäste ein, sie sehen nicht gerade frisch aus. Marie erklärt ihr, dass die Bar eine Absturzbar ist, in der die Gäste ihre Nacht beenden, nachdem sie andere Lokale besucht haben.
April bestellt sich noch eine Margarita, so heißt das Getränk, und behauptet erfolgreich ihren Platz an der dicht umdrängten Bar. Sie spürt, wie der Alkohol nach und nach ihre Anspannung löst; etliche Margaritas später und um das Geld einer Putzschicht ärmer, torkelt sie selig heimwärts.
Marie ist vierundzwanzig, genauso alt wie April, sie haben im selben Monat Geburtstag. Marie wird ihre Freundin. Sie gehen mit Julius und Saskia ins Freibad, erzählen sich inmitten von Kindergeschrei und pausenlos rauchend Episoden aus ihrem Leben.