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Marie liegt mit geschlossenen Augen neben ihr. Ein Scheißkerl, sagt sie und meint damit ihren Mann Rafaelo. Er ist Italiener, Gitarrist in einer Band und hat ihr erst neulich ein Veilchen verpasst.

April kann sich nicht vorstellen, von einem Mann geschlagen zu werden. Ich würde ihn zermalmen, sagt sie und stellt sich vor, wie sie es tut.

Du hast keine Ahnung, sagt Marie, er ist eisenhart. Sie zieht sich ohne Spiegel die Lippen nach; sie erinnert April an eins der Modemädchen aus den Illustrierten. Oh Gott, fährt Marie fort, du hast wirklich keine Ahnung. Sie erzählt April, dass er ihren Schmuck versetzt hat. Es ist mir egal, sagt sie, Hauptsache, er lässt mich in Ruhe.

Das kenn ich, sagt April, mein Vater war auch so.

Solche Versager, murmelt Marie und fächelt sich Luft zu, und dann kommen sie wieder angekrochen, ich hab es satt, so satt.

Schick ihn doch endgültig zum Teufel, sagt April und betrachtet ihre neue Freundin, die so lebendig aussieht, so schön, nur der Mund, über dem ein Bärtchen aus Schweißperlen steht, wirkt müde.

Ja, das sollte ich tun, sagt Marie und schaut in die Wolken, als würde sie dort eine Botschaft lesen, nur für ihre Augen bestimmt.

Aber es gibt auch die andere Marie, die ihren Panikanfällen hilflos ausgeliefert ist und dann starr vor Angst im Bett liegt. Es überkomme sie einfach, versucht sie zu erklären, als April nach einem dieser Anfälle neben ihr am Bettrand sitzt, es sei wie Ertrinken. Sie versucht, Marie zu trösten, und ist erstaunt über ihre Abwehr, das Gefühl vom Ertrinken kennt sie, am liebsten würde sie Marie ohrfeigen und ihr sagen, sie solle sich zusammenreißen.

Einmal hört April von ihrer Wohnung aus Marie erbärmlich schreien, und als sie die zwei Stockwerke hocheilt und an der Tür klingelt, öffnet ihr Rafaelo. Willst du was, fragt er, hebt die Hand und tritt ihr entgegen. Während April Stufe um Stufe zurückweicht, stößt er laute Verwünschungen aus, klagt die Frauen an, das Leben, alles nur Täuschung.

Ich konnte dir nicht helfen, sagt sie später zu ihrer Freundin, er hätte auch mich plattgemacht.

April versäumt keine ihrer Putzschichten, obwohl sie ganze Nächte in der Bar verbringt, wenn Marie dort arbeitet. Hans bleibt freiwillig bei Julius, sie ist ohnehin lieber ohne ihn unterwegs, sie würde sich sonst beobachtet vorkommen, sobald sie mit unbekannten Männern spricht. Kurz vor Mitternacht trudeln die ersten Stammgäste ein, bunte Gestalten, die was mit Kunst zu tun haben: ein angehender Schriftsteller, etliche Musiker, eine Fotografin mit schweren Augenlidern, die Kinokartenabreißerin, gefolgt von einem Verehrerpulk, der Mann, auf dessen Glatze sich eine kleine Plastikdose mit Kaffeesahne befindet. Auf Aprils Frage, wie er das Döschen befestigt hat, sagt er: Dies ist kein Döschen, sondern ein Portionssahner. Als sie sich eine Antwort überlegen will, steht längst jemand anderes neben ihr. Die Inhaberin der Bar, Suse, eine rothaarige Frau, steigt bei guter Stimmung auf die Theke und lässt einen Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen. Während die Männer ihre Beine begutachten, mustert Suse die Männer von oben, als nähme sie Maß für ihre Särge. Mit der ureigenen Logik der Betrunkenen werden Geschichten erzählt, Pläne entworfen, Träume für tauglich befunden. Der angehende Schriftsteller steckt April Adressen für Stipendien zu, ein Mann aus der Musikbranche, von allen Franzl genannt, bietet ihr einen Job an. In den Gesprächen geht es um Ruhm, Geld, Ehre. Es geht aber auch um die Vorzüge bestimmter Mineralwassersorten, und sie ist überrascht, wie ernsthaft darüber diskutiert wird. Unter dem Himmel aus Wellblech verstreichen die Stunden in einem eigenen Tempo, Freundschaften und Verbrüderungen halten bis in den frühen Morgen, manchmal auch bis zum Nachmittag.

Ein junger Mann im Matrosenhemd spendiert April eine Margarita nach der anderen, sie spürt die Sommerhitze, und wie sie langsam betrunken wird — weißt du was, sagt sie, lass uns die Hemden tauschen.

Gute Idee, sagt er zu ihrer Verblüffung und mustert ihr kariertes Männerhemd, das sie wie ein Zelt umhüllt. Auf der Toilette ziehen sie sich aus, stehen sich halb nackt gegenüber. April schlüpft in das Matrosenhemd, ohne auf seine Blicke zu achten. Sie gefällt sich in diesem Hemd, trägt es den ganzen Sommer lang.

Doch jene Nächte sind nur eine kurze Schonzeit. Wenn April morgens die Bar verlässt, erwarten sie die Tagesstunden schmerzhaft grell, sie geht nicht gern nach Hause. Sie möchte sich von Hans trennen, doch sie weiß nicht, wie. Beim Öffnen der Wohnungstür hält sie die Luft an und atmet erst richtig aus, wenn Hans schon zur Arbeit gegangen ist. Dann legt sie sich zu dem schlafenden Julius und wartet, bis er wach wird. Übermütig, noch immer betrunken, macht sie mit ihm ihre Späße, legt eine Schallplatte auf und tanzt mit ihm, und er darf ihr Matrosenhemd tragen. Doch wenn sie mittags aufsteht, meidet Julius ihre Nähe, er spielt oft draußen, und sie ruft ihn erst zur Essenszeit. Das ist Aprils Vorstellung von Geborgenheit: Als Kind bis in die dunklen Abendstunden herumtoben dürfen und dann müde nach Hause kommen, wenn schon das Essen wartet. Sie bereitet gern die Teller für ihn und seine Freunde vor: Tomaten, die wie Fliegenpilze aussehen, verzierte Eier, Gurkenschlangen. Seine Freunde übernachten bei ihm, und natürlich Saskia; manchmal spielt April mit ihnen, jagt sie um die Häuser, versteckt sich, erschreckt die Nachbarn. Gemessen an ihrer eigenen Kindheit erscheint ihr das Leben von Julius — keine Prügel, kein Keller — fast geborgen. Und doch spürt sie seine Angst, wenn sie vor Anspannung nur noch um sich schlagen kann, wenn sie wortlos aus der Wohnung stürmt und durch die Straßen rennt, als würde sie verfolgt, verfolgt von sich selbst, einem ein Meter vierundsiebzig großen Tornado, der sie voller Zerstörungswut niederwalzt. Als trauriges, stummes Gespenst kehrt sie dann zum Schrecken ihres Sohnes in die Wohnung zurück.

Sie möchte, dass Hans sie nicht mehr liebt, dann fiele ihr eine Trennung leichter. Sie lässt sich gehen, sitzt abends schmuddelig und schmatzend am Tisch, doch er scheint weder sein Lieblingsessen zu vermissen noch ihr verwahrlostes Aussehen zu bemerken. Ihre Bewegungen sind träge, sie gibt nur ein störrisches Grunzen von sich, wenn er sie etwas fragt. Sie kümmert sich nicht mehr um den Haushalt, lamentiert ohne Unterlass, mit immer schriller werdender Stimme: Kotzübel sei ihr, ihre Seele überschwemmt von Scheiße, und überhaupt komme sie sich vor wie tot, wie nie geboren, ein alter Strumpf. Hans denkt aber gar nicht daran, sich zu entlieben, stattdessen plant er eine gemeinsame Reise an den Gardasee.

Im Wörterbuch steht unter Liebe: Anziehungskraft, Magnetismus, vor Sehnsucht vergehen, herzbetörend, sein Wohl oder Wehe erwarten, Wonnemond. Die Gegenwörter sind: Abneigung, Ekel, Gleichgültigkeit, Hass.

April meint sich zu erinnern, dass es in Polen einen Fluss gibt, der Liebe heißt. Es gibt keinen Plural für die Liebe.

Liebst du mich noch, fragt sie Hans.

Ja, sagt er.

Aber warum?

Warum? Hans klingt überrascht.

Ja, warum.

Ist eben so, sagt er.

Was bedeutet es, fragt sie sich, dass er sie liebt, obwohl sie ihn nicht mehr liebt. Und warum fragt er sie nicht. Ist es ihm egal?

Manchmal möchte sie ihn schütteln, ihm sagen, dass er es ohne sie viel besser hätte.

April schafft es nicht, die Reise zum Gardasee abzublasen, redet sich ein, sie und Hans seien ohnehin nur noch Freunde, redet sich ein, sie wolle Julius nicht enttäuschen.

Aber schon die Hinfahrt ist ein Desaster. Hans rast mit dem klapprigen Datsun, seinem ersten eigenen Auto, über die regennasse Autobahn, als wolle er ein Rennen gewinnen, und im gleichen Tempo kanzelt er sie ab. Warum sie so uninteressiert sei. April beteuert das Gegenteil, Hans wirft ihr Heuchelei vor. Sie wundert sich über seine Wut, sie selbst bleibt erstaunlich gelassen, sie hat keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Auf einmal begreift sie, dass seine bisherige Ruhe sich nicht zuletzt von ihrer Unbeherrschtheit genährt hat.