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Während der gesamten Reise bleibt April in ihr Buch vertieft, auch wenn sie zu dritt durch die Straßen gehen, an allen Sehenswürdigkeiten vorbei. Sie blickt weder nach links noch nach rechts, als wollte sie ihre Umgebung ausblenden. Trotzdem registriert sie, wie Hans Julius zu einem Bettler schickt und ihn fotografiert, als er dem zerlumpten Mann ein Geldstück überreicht. Sogar abends beim Essen liest sie, die Gabel in der einen Hand, in der anderen das Buch, es ist wie ein Zwang. Der Roman heißt:»Irre«. April wäre hier gern allein, und sie würde gern mutig aussprechen, was ihr durch den Kopf geht, und dann sagt sie es: Ich werde mich von dir trennen. Hans überhört den Satz, erst als sie ihn wiederholt, horcht er auf. Sie sitzen in einem Restaurant, große Teller mit Nudeln vor sich, aus dem Hintergrund klingt italienische Schlagermusik, Hans sieht seinen Sohn an und sagt: Wenn deine Mutter mir das antut, werde ich mich umbringen.

Sie brechen die Reise ab und fahren nach Hause. Julius betrachtet sie entsetzt, und sie kann es ihm nicht verdenken. Sie fühlt sich schuldig und trotzdem erleichtert. Sie hat das vage Gefühl, Verantwortung für sich zu übernehmen, auch wenn das zulasten von Hans geht. Er, der früher stolz bekannte, niemals zu weinen, schließt sich tagelang in seinem Zimmer ein, sein Wehklagen dringt durch die Wände, irgendwann ist nur noch ein Wimmern zu hören. Julius starrt verstört vor sich hin, sie kann ihn nicht trösten, er will zu seinem Vater, doch die Tür bleibt verschlossen. April weiß nicht weiter, am liebsten würde sie sich auflösen, die Schwere ist noch schwerer zurückgekehrt.

16

Hans wollte zunächst in eine andere Stadt ziehen, aber er ist geblieben. Seine neue Wohnung liegt nur eine Straße von ihnen entfernt. Wenn sie sich zufällig begegnen, kann April seinen schleppenden Gang, seine traurigen Augen kaum ertragen.

Julius schleudert seine Stifte an die Wand, er will nicht malen, er will nichts essen, er will zu seinem Vater. April hat das Gefühl, in seinen Augen ist sie die große Kaputtmacherin, die ihn von seinem Vater trennt. Dabei kann Julius jederzeit zu ihm gehen, doch er hält an seinem wütenden Trotz fest. Sie sagt nicht wie ihre Mutter früher: Hau doch ab. Aber sie würde es gern sagen, hau ab, verschwinde. Stattdessen umarmt sie ihn, drückt Julius fest an sich — er liegt wie eine Gliederpuppe in ihren Armen.

Sie sucht einen Psychologen, einen, der sie nicht nur krankschreibt, sondern ernst nimmt. Doch schon der erste Versuch lässt sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Eine große, mächtige Frau sitzt ihr hinter einem gläsernen Schreibtisch gegenüber und mustert sie so eindringlich, als wollte sie ihr ganzes beachtliches Körpergewicht in diesen Blick legen, während April in dem weichen Sofa versinkt, unfähig, eine einzige Frage zu beantworten.

Sie haben viel erlebt, fragt die Psychologin.

April zuckt die Achseln und denkt, was ist viel und was ist wenig.

Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?

Woher soll sie das wissen? April kommt sich vor wie ein Fisch, der durch das Zimmer schwimmt. Nein, kein Fisch — sie ist ein Kätzchen.

Sie sind ein Kätzchen vom Schuttabladeplatz. Ja, das sind Sie. Die Frau lehnt sich zurück. Ein frierendes, verschrecktes Kätzchen, misstrauisch Fremden gegenüber und jeder ausgestreckten Hand. Sie lassen sich nicht so einfach füttern, Sie beißen eher, und wehe dem, der sich Ihnen zärtlich nähert, dann wird aus dem Kätzchen eine fauchende Wildkatze.

April versucht sich so zu sehen wie von der Psychologin beschrieben, doch sie versinkt nur noch tiefer in das Sofa, es ist ihr peinlich, sich das anhören zu müssen.

Was ist das für ein Gefühl, so ein Kätzchen zu sein, fragt die Frau.

April wendet sich dem Fenster zu, starrt auf den Umriss einer Grünpflanze, bringt es einfach nicht fertig, etwas zu sagen.

Der Name des nächsten Psychologen lautet Dr. Fuß, er läuft um April herum, umkreist sie geradezu, was ihr theatralisch vorkommt. Sie sitzt mitten im Zimmer auf einem Stuhl, er hält ihr wie ein Zauberkünstler plötzlich einen Spiegel vor das Gesicht und sagt: Was sehen Sie? April starrt gebannt auf seine Gesundheitsschuhe, aus denen weiße Knöchel hervorquellen. Sie fragt sich, wie seine Füße wohl aussehen und ob sein Name etwas damit zu tun hat, dass sie sich das fragt.

Der dritte Psychologe sitzt eine ganze Weile schweigend vor ihr. Dann sagt er: Warum sind Sie hier?

Es fällt ihr schwer, diese Frage auf Anhieb zu beantworten. Warum ist sie hier? Ich weiß nicht, was ich fühle, sagt sie, ob ich mich gut fühle oder schlecht, es lässt sich nicht mehr unterscheiden.

Seit wann ist das so? Der Psychologe sieht müde aus.

Sie zuckt die Achseln, bemüht sich, ihm zu erklären, dass es ihr vor allem nach Momenten des Glücks passiert.

Und das Glück, fragt er. Wie fühlte sich das an?

Sie überlegt, ihr fällt rein gar nichts ein. April möchte den Psychologen gern beeindrucken und versucht, sich an die Freudlektüre in der Deutschen Bücherei zu erinnern. Der Arzt schlägt ihr eine Analyse vor, was sie erst einmal ablehnt.

Am frühen Abend sind es immer noch vierunddreißig Grad im Schatten. Die Hitze ist wie ein Summen auf ihrem Körper. Sie geht in die Markthalle; hier fühlt sie sich geborgen, und die Luft ist erträglich. Sie setzt sich auf eine Bank und beobachtet Artur. Er scheint beim Friseur gewesen zu sein, sein grauschwarzes Haar liegt ihm brav gescheitelt am Kopf an. Sonnenlicht bricht durch eins der großen Fenster, sammelt sich um seine Mundwinkel zu einem Bart aus Licht. Er ist auf dem Sprung, leicht zitternd setzt er sich in Bewegung, versucht einen großen Schritt, springt über unsichtbare Hindernisse. Sie möchte über ihn schreiben und fragt sich, wie er als Kind gewesen sein mag. Es fällt ihr schwer, ihn als Mann einer Frau zu sehen, eher ist er wie ein Bruder von jemandem.

Obwohl sie das klar vor sich sieht, findet sie auf dem Papier keine Sprache dafür. Artur entzieht sich ihr, wird zum Gespenst, zum Gespenstervogel, der flügelschlagend hinter der Kirchturmspitze verschwindet, wenn sie sich ihm nähern will. April gibt nicht auf, sie bleibt so lange an ihrem Schreibtisch sitzen, bis sie ihm zumindest ein Krächzen entlockt, ein Krächzen mit unbekanntem Akzent. Als sie anderntags mühsam entziffert, was sie geschrieben hat, kommt es ihr falsch und anmaßend vor. Nächtelang sitzt sie an ihrem Schreibtisch, mal zeigt sich Artur schwarz gewandet wie ein Marabu, mal dreht er sich als Halbwüchsiger in einem Karussell, oder er steht hinter ihr, schaut ihr höhnisch über die Schulter und kichert, wenn ihre Worte klappern. Einmal hört sie ihn ganz deutlich sagen: Du bist feige. Endlich schreibt sie die ersten Seiten, klaubt die passenden Wörter auf, wie Aschenputtel die Erbsen. Auf einmal zeigt sich Artur entgegenkommend: Lass uns vor die Tür gehen, sagt er, die Welt erobern, und etwas in seiner Stimme macht sie stutzig, diesen Ton kennt sie von ihrem Vater. Wie hat sie die Ähnlichkeit übersehen können? Er möchte mit ihr die Welt erobern? Sie lacht leise. Was willst du, fragt sie ihn, Teil meiner Wirklichkeit sein oder Fiktion bleiben?

April schickt ihrem Vater ein Paket mit einer ganzen ungarischen Salami — seiner Lieblingswurst — , Zigaretten, ein paar Fläschchen Stonsdorfer, einem Buch über Störtebeker, dazu Kastanien, die Julius gesammelt hat. Sie berichtet in einem langen Brief, wie es ihr ergangen ist, legt Fotos von sich und Julius bei, von Hans, schreibt ihren Absender übergroß und deutlich lesbar auf das Paket.

Sie bewirbt sich mit ihren ersten Seiten über Artur um ein Literaturstipendium. Sie übernimmt den Job in der Musikbranche, der sich als simple Küchenarbeit erweist. Franzl, der Mann aus der Bar, bietet ihr zwölf Mark die Stunde. Er kommt aus München und will seinen Wehrdienst nicht antreten, das ist der Hauptgrund, warum er hier lebt.