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Herbstliches Sonnenlicht flutet durch das Fenster der winzigen Küche im zweiten Stockwerk, unten im großen Saal finden abends die Auftritte statt. Die Musiker aus den Vorgruppen mäkeln immer herum, sagt Franzl und gibt ihr Geld für den Einkauf. Er sagt ihr nicht, was sie kaufen soll, nur die Anzahl der Personen. April streift mit dem Gefühl einer Eroberin durch die Geschäfte, sie kauft Dinge, die sie sich bisher nicht leisten konnte. Mit großen Tüten beladen betritt sie die Küche.

Das hat lange gedauert, sagt Franzl und streicht sich nervös durch sein weißblondes Haar.

April breitet ihre Einkäufe auf dem Tisch aus: exotische Stachelfrüchte, bunte Salatblätter, Muscheln, Krabben, goldfarbene Nüsse.

Was soll der Wahnsinn, ruft Franzl, was willst du daraus zubereiten?

Ich wollte, ich will, sagt sie und weiß nicht weiter. Worauf hast du denn Lust?

Franzl schaut sie an, sichtlich verwirrt.

Hast du einen besonderen Wunsch?

Oh Gott, ich möchte sterben, sagt er, das geht ja voll daneben.

Nun reg dich ab, ich krieg das hin, sagt sie, mit einer Zuversicht, die selbst in ihren Ohren verlogen klingt. Sie betrachtet ihn und denkt, dass er aussieht wie Hitler in Blond.

Ein schlechter Tag, ein ganz schlechter Tag. Franzl holt tief Luft.

Sie tätschelt seine Schulter. Glaub mir, ich kann gut kochen.

Manche essen keinen Fisch, sagt er, nun schon mit einem halben Lächeln.

Lass dich überraschen, sagt sie, auch wenn Franzl offensichtlich keine Lust auf eine weitere Überraschung hat.

Sie geht noch mal los, kauft Kartoffeln, Gemüse, Brot.

Franzl beäugt sie und ihre Zutaten misstrauisch, während sie das Gemüse schneidet. Sie kocht einen Fischtopf mit exotischen Früchten, mischt Kartoffeln darunter und viel Chili.

Die Musiker aus der Vorgruppe essen ihre Teller leer, zwischendurch geht das Weißbrot aus. April besorgt Fladenbrot vom Türken, und selbst Franzl nimmt zweimal von der Suppe nach. Ein pickliger Jungmusiker blinzelt sie an und sagt: Ich heiße Ted, gehst du später noch was mit mir trinken? Überrascht und belustigt sagt sie: Leider hab ich zu tun, und denkt, es gibt immer einen Ted, Marie hat ihr von so einem Typ erzählt, und nun kann auch sie mit einem aufwarten.

Versunken im quengligen Tremolo einer Gitarre spült sie das Geschirr, kehrt den Boden. Ob die Musik gut oder schlecht ist, kann April nicht beurteilen, sie kommt ihr vor wie ein Mitschnitt von Alltagsgeräuschen, Baulärm, Autohupen, Staubsaugerbrummen. Die Stimme des Sängers klingt nach Kehlkopfkrebs.

Franzl ist zufrieden mit dem Abend, gut gelaufen, sagt er, super! Dieses Wort ist ihr fremd, sie kann sich nicht vorstellen, es selbst zu benutzen. Im Toilettenspiegel blickt sie sich müde an und atmet tief durch, hält die Handgelenke lange unter den kalten Wasserstrahl. Franzl hilft ihr beim Aufräumen, gibt Witze zum Besten, und als schließlich ein glatzköpfiger junger Mann auftaucht, wirkt er vollends zufrieden. Das ist mein Apotheker, verkündet er. Während der Glatzkopf versucht, sich aus seiner Umarmung zu befreien, stößt Franzl kleine Freudengluckser aus. Der» Apotheker «stellt einen schmalen silbernen Koffer auf den Tisch. April lässt sich einladen zu einer Linie, sie hört das Wort zum ersten Mal, und auch wenn ihr die Sache lächerlich erscheint, mit dem zusammengerollten Geldschein und dem ganzen Getue, macht sie es Franzl nach, zieht sich das weiße Pulver in die Nase. Ihre Müdigkeit verfliegt, auf dem Heimweg spürt sie jeden Schritt im Rückgrat nachklingen, und die unerwartete nächtliche Wärme umhüllt sie wie eine zarte Membran.

Jedes Mal nimmt sie sich vor, nicht wieder hinzugehen, und dann macht sie es doch, lässt sich an der Grenze als unerwünschte Person abweisen. Sie versucht ihr Gesicht so aussehen zu lassen, als gehöre es jemand anderem, doch eine unerwünschte Person riechen» sie «schon aus zehn Metern Entfernung.

Morgens schreibt sie, nachmittags geht sie putzen, danach kümmert sie sich um Julius, so gut sie kann.

Beim Schreiben wendet April nun härtere Methoden an, fängt Artur mit dem Lasso ein, sieht in seinen Augen die Äderchen platzen, er schielt vor Anstrengung, ihr zu entkommen. Von ihrem Vater hat sie noch keine Antwort erhalten. Einmal meint sie ihn auf der Straße zu sehen, doch als er sich umdreht, sieht er eher aus wie Mücke.

Sie gibt sich keine Mühe mehr, die Ärzte von ihren Defekten zu überzeugen, ihre Krankschreibung wird ein letztes Mal verlängert, danach wird sie Arbeitslosengeld beantragen müssen. Sie lässt sich treiben, und oft hat sie das Gefühl, sie ist nicht dabei, wenn die Tage verstreichen. Eine gewisse Stabilität findet sie im Rhythmus ihrer mitternächtlichen Ausflüge. In der Bar trifft sie auf Gleichgesinnte und ist stets eine der Letzten, die nach Hause gehen. Es gibt kleine und größere Eskapaden, die Abstürze verkommen zur Gewohnheit, sie wacht an unbekannten Orten auf, das Gefühl von Trostlosigkeit in den Gliedern. Einmal findet sich April in einem fremden Zimmer wieder und weiß nicht mehr, wie sie dahingekommen ist. Sie zieht das Rollo hoch, ein kühler Septembermorgen, sie ist vollständig bekleidet, aber nicht passend für das Wetter. Als sie die Wohnung verlassen will, trifft sie im Flur auf einen jungen Mann, der ihr erklärt, warum sie hier ist: Sie habe in der Nacht bei ihm im Taxi gesessen und als Adresse die» Mitropa «angegeben, doch das Café»M«, auch» Mitropa «genannt, hatte bereits geschlossen. Dann sei sie komplett verstummt, deshalb habe er sie kurzerhand über die Schultern geworfen und in seine Wohnung, sein Bett getragen, er habe die Nacht auf dem Sofa verbracht. Obwohl der junge Mann lächelt, meint sie in seinem Gesicht Besorgnis zu lesen. Sie möchte nur weg und klärt ihn nicht über das Missverständnis auf. Sie wollte vergangene Nacht in die» Mitropa«, ja, aber in die» Mitropa «jenseits der Grenze, auf dem Hauptbahnhof in Leipzig, wo ihre Mutter arbeitet.

Sie hat gehört, dass Söhne sich eher auf die Seite der Mutter schlagen und Töchter mehr dem Vater zugetan sind, aber auf Julius passt dieses Muster nicht. Kein Wunder, denkt sie, dass er ganz und gar auf seinen Vater fixiert ist, der mit ihm Ausflüge macht, die Natur erklärt, mit ihm schwimmen geht. Julius betrachtet sie oft, als wüsste er nicht, wer sie ist, als wäre sie nie seine Mutter gewesen. Sie kann es ihm nicht verdenken, denn allzu oft gibt sie ihn bei Hans ab oder lässt ihn nachts allein. Einmal findet sie, als sie frühmorgens nach Hause kommt, einen Zettel vor ihrer Tür, darauf steht: Die dunkle, dunkle Nacht. Meistens schläft Julius, wenn sie sein Zimmer betritt. Sie sitzt eine Weile neben ihm am Bettrand, horcht auf seinen Atem, der ihr friedlich erscheint. Sie hat ihn am liebsten, wenn er schläft, dann kann sie ihn vorbehaltlos lieben.

Hans hat ihre Beziehung noch nicht ganz aufgegeben, er lädt April zum Essen ein, er will, dass sie zu ihm zurückkehrt, doch schon der Gedanke daran lässt sie erstarren. Neuerdings redet er über Sternzeichen, und wie aus allem macht er auch daraus eine große Sache. Seine Stimme trieft vor Bedeutsamkeit, wenn er ihr erklärt, warum wer mit wem zusammenpasst, kaum zu glauben, dass er es ernst meint. Als April das Ganze hartnäckig hinterfragt, sagt er: Das verstehst du nicht, dafür braucht es gewisse Voraussetzungen. Zunächst ist sie verletzt, doch dann erkennt sie seine Hilflosigkeit, er weiß immer noch nicht, wie er mit ihr umgehen soll. April würde ihn gern trösten, aber das steht nicht in ihrer Macht.

17

Silvester, kurz vor Mitternacht, die ersten Korken knallen. April trägt das Matrosenhemd, ihr ist nach Auflösung zumute, gleichzeitig will sie dazugehören. Sie möchte jemanden kennenlernen, sie hat Lust, sich zu verlieben. Laute Musik, verstärkte Beats auf der Haut, sie fühlt sich frei, dank Alkohol und Drogen. In der Bar herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, das neue Jahr bricht an, sie umarmt Marie, sie umarmt alle ihre nächtlichen Komplizen, dann sieht sie den großen, schönen Mann, er tanzt auf winzigstem Raum mit Suse. Sie stellt sich einfach tanzend dazu. Nach einer Weile lacht Suse laut auf und überlässt ihr das Feld mit den Worten: Ich will ihn doch gar nicht. Dem Mann scheint es egal zu sein, mit wem er tanzt, er bewegt sich einfach weiter und betrachtet sie mit dem Lächeln, das vorher Suse galt. April hat ein Rauschen im Kopf, während sie in seinen Armen verschwindet, sie bekommt bald keine Luft mehr, und der Mann gibt sie frei. Er bugsiert sie hinaus in die verschneite Nacht, benommen folgt sie ihm durch die Straßen voller Lichter und feiernder Menschen. Er hält sie an seiner Hand, während er ihr von einem Meteoriten erzählt, der bald auf die Erde stürzen und ganz Kreuzberg in eine Wüste verwandeln wird. Erst vor seiner Wohnungstür lässt er sie wieder los. In der Küche steht ein laufender Fernseher auf dem Boden, daneben eine Auswahl an leeren und halb vollen Weinflaschen. Es riecht nach Farbe, Terpentin. Stell dir vor, fährt er fort, ein Stein mit dreihundert Metern Durchmesser wird unser Leben auslöschen. Sie hat keine Lust, sich das vorzustellen, sie trinkt aus einer der Weinflaschen, doch die Süße des Sich-Fallen-Lassens bleibt aus. In seinem Schlafzimmer bedecken dunkle Ölbilder jeden Zentimeter an den Wänden, umkreisen April wie Schatten. Nackt sitzt sie auf ihm, und während sie versucht, rhythmisch zu bleiben, entdeckt sie eine Vielzahl von kleinen Kreuzen auf den Leinwänden, schwarz, grau, silbern.