Als sie anderntags um die Mittagszeit aufwacht, steht er mit einem großen Zeichenblock vor ihr, einen Stift in der Hand, und betrachtet sie.
Was machst du da, fragt sie verschlafen.
Wonach sieht es denn aus? Seine Stimme klingt nicht gerade gut gelaunt. Das bist du, sagt er und reicht ihr eine Zeichnung.
Es fällt ihr schwer, in diesem Gewimmel aus Kreuzen ein menschliches Wesen zu erkennen, und doch fühlt sie sich geschmeichelt, als hätte er ihr mit seinen dunklen Strichen eine Gestalt gegeben, sie sichtbar gemacht.
Gefällt mir, sagt sie.
So, sagt er und zupft an seinen Fingern. Es ist kalt, du solltest dich anziehen. Dann winkt er ab. Ist eh egal. Hörst du die Vögel?
Sie nickt.
Sind schon unruhig, wissen Bescheid.
Sie nickt abermals, versucht so zu tun, als wisse auch sie Bescheid.
So ein Meteorit hat eine Geschwindigkeit von ungefähr 70 000 Stundenkilometern, sagt er.
Woher weißt du das alles, fragt sie, um überhaupt etwas zu sagen.
David Bowie, man könnte diesen Meteoriten David Bowie nennen, dann wäre ich unter David Bowie begraben.
Wie heißt du eigentlich, fragt sie.
Könnte auch nur eine kosmische Salve werden, dann geht die ganze Warterei wieder von vorne los.
Als April eine halbe Treppe tiefer aufs Klo geht, fühlt sie sich in ihre Vergangenheit versetzt. Sie erinnert sich plötzlich an die Geschichte des Jungen, der aufs Klo wollte und vier Stockwerke nach unten stürzte. Der Boden unter ihr scheint fest zu sein. Sie sieht aus der Fensterluke in den Hof, wo ein Schneemann steht, mit einem roten Damenhut auf dem Kopf. Ihr fällt ein Werbespruch aus ihrer Kindheit ein: König Kunde kauft im Konsum, sagt sie laut, hält sich kurz an den Silben fest. Sie denkt daran, dass sie schon fast zwei Jahre im Westen lebt. Sie denkt an ihren Vater, an seine Geschichten, besonders an die mit dem berühmten Schauspieler Robert Mitchum. Sie stellt sich vor, wie ihr Vater aus dem Haus geht, die Luft betrachtet, wie ein Polizist, der einen Tatort mustert: Was könnte hier passiert sein? Ihrem Vater ging es allerdings nicht um Tatsachen. Sie hört seine Stimme: Stell dir vor, sagt er, ich kannte mal einen Ungarn, könnte auch ein Franzose gewesen sein, mit einem russischen Akzent, der von den Toten zurückgekehrt ist, wirklich, so war es. April weiß bis heute nicht, ob er mit seinen Geschichten bloß Aufmerksamkeit wecken wollte oder sie wirklich glaubte.
Sie versucht, nicht an Julius zu denken, der Silvester mit seinem Vater gefeiert hat. Sie denkt, dass sie Durst hat, Hunger, dass sie was essen sollte. Als sie vom Klo zurückkommt, sitzt der noch namenlose Mann vor einem Teller Linsensuppe. Seine Pupillen sind groß und glänzen.
Der Teller ist für dich, sagt er und füllt ihr auf.
Sie beginnt zu löffeln, nimmt ein Stück Brot, sieht im Fernseher die Silvesterraketen der gestrigen Nacht in den Himmel steigen.
Unsere Henkersmahlzeit, sagt er, und etwas an ihm macht sie stutzig, er scheint ihr plötzlich so aufgeräumt. Wie viel wiegt der größte kosmische Brocken, der bisher runtergekommen ist? Na? Sag schon. Während sein Lächeln immer breiter wird, überfällt sie eine Taubheit am ganzen Körper, sie kann kaum noch den Löffel halten. April hat keine Ahnung, welche Drogen er ihr mit der Suppe verabreicht hat, ihr Kopf sinkt auf die Tischplatte, sein Lachen hallt in ihren Ohren wider, sie kann sich nicht mehr bewegen, hört nur noch dieses Lachen. Ihr Inneres befindet sich in einer Art riesigem Schneckengehäuse, sich endlos drehend, ohne je an Grenzen zu stoßen. Sie hat Angst, dass es nie wieder aufhört. Ihr Mund ist trocken, das Tageslicht schmerzt auf ihren Augenlidern; Donnerschläge, eine Art universelle Zerstörung im Kopf, der restliche Körper völlig unverbunden. Als sie aufstehen will, knicken ihr die Beine weg, sie muss sich am Tisch festhalten. Was hat er ihr nur in die Suppe getan? Rattengift, Bittermandel oder Krümel einer kosmischen Salve? Trotz des Schmerzes lacht sie laut und sagt: Ich werde verrückt, verrückt, verrückt. Der Mann lächelt, als habe er sie überlistet, und sagt: Das bist du doch schon. Auch seine Bewegungen sind merkwürdig, als wäre er gefriergetrocknet. Er bringt sie zur Tür, quetscht ihre Hand und sagt: Ich heiße Michael.
Das Eis am Ufer der Spree zieht sich zurück, gibt dunkel brackiges Wasser frei. Möwen schreien um die Wette. In ihrem Innern löst sich der graue Winterknoten. Sie frönt stundenlang einem Putzfimmel, kauft rot blühende Kamelien, sät Sonnenblumenkerne im Vorgarten aus, und Julius hilft ihr dabei. Nach dem Abschied von Michael war sie überzeugt, ihn nie wiederzusehen. Doch schon eine Woche später stand sie vor seiner Tür. Sie gehen vorsichtiger miteinander um, auch wenn es für April nicht einfach ist. An manchen Tagen erscheint ihr Michael geschrumpft, geradezu schmächtig, wie leblos, an anderen Tagen ist er voll da. Wenn sie bei ihr sind, drehen sie David Bowie auf, liegen oft noch im Bett, wenn Julius aus dem Kinderladen kommt. April hat den Eindruck, ihr Sohn nehme nur Bruchteile von ihr wahr, ein Stück Nase, eine Fingerspitze, einen Fuß; nach einer Weile begreift sie, dass das allein ihre Wahrnehmungsweise ist. Wenn sie Julius zum Zahnarzt begleitet, überlässt sie ihm während der Behandlung ihre Hände, die danach aussehen, als hätten Hühner ihre Schnäbel daran gewetzt.
Trotz ihrer Verliebtheit versucht sie, Michael distanziert zu betrachten. Er ist nicht nur Maler, er schreibt auch, eins seiner Gedichte wäre beinahe veröffentlicht worden. Das Gedicht handelt von einem Asteroiden, der im Gegensatz zum Meteoriten gleich die ganze Erde plattmachen könnte, Michael legt großen Wert darauf, dass sie das eine nicht mit dem anderen verwechselt. Sie versucht, sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen, überlegt insgeheim, ob er es selbst ernst meint. Und dann der abrupte Wechsel zwischen seiner zwanghaften Munterkeit und elender Verzagtheit: Er werde ohnehin bald sterben, sein Herz sei viel zu klein für diese hundertsechzig Pfund Fleisch, Knochen und Gedärme.
Wenn sie mit Michael durch die Straßen geht, gelten die Blicke der Frauen alle ihm, während er nur Augen für April hat. Die ersten grauen Haare lassen ihn noch verwegener aussehen, doch was sie wirklich an ihn bindet, ist die alte Unsicherheit: Meint er es gut mit ihr oder eher nicht?
April steht früh am Bahnsteig und wartet auf die S-Bahn. Der Frühling, die Sonne, Vögel bauen ihre Nester zwischen die stählernen Balken, und doch ist etwas anders als sonst. Sie sieht sich um, Menschen mit müden Gesichtern, Frauen geschminkt, ungeschminkt, quengelnde Kinder, Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder sonst wohin. Ein Obdachloser, zerlumpt, barfuß, wippt auf seinen Sohlen, neben ihm sein Hab und Gut in Tüten. April läuft den Bahnsteig entlang, fängt den Blick eines Anzugträgers auf, ein winziges Lächeln hebt seine Mundwinkel, aber er schaut an ihr vorbei, scheint einen bestimmten Punkt zu fixieren. Sie dreht sich um, da ist nur der Obdachlose, der ungläubig seine Füße betrachtet, als hätte er bisher Flossen an den Beinen gehabt. Auf dem Bahnsteig ist es stiller als sonst. Oder kommt es ihr nur so vor? Eine Taube pickt mit ihrem Schnabel auf den Boden, es klingt, als würde sie etwas morsen. Der Obdachlose atmet hörbar aus, murmelt vor sich hin. Erst als er sich setzt, aufsteht, sich wieder setzt, begreift April, was anders ist: Dort, wo bis zum gestrigen Tag noch eine Bank stand, auf der man sich zum Schlafen ausstrecken konnte, befindet sich eine Reihe von abgeteilten Sitzgelegenheiten. Allen Umstehenden dürfte klar sein, warum die Bank neu gestaltet wurde: Niemand soll darauf schlafen. Nun können sie sich hier nicht mehr breitmachen, sagt eine Frau laut in die Runde. Alle verstehen, dass sie die Obdachlosen meint, niemand widerspricht. Und April? Auf welcher Seite steht sie? In den nächsten Tagen fällt ihr auf, dass die alten Bänke an allen öffentlichen Plätzen ausgetauscht wurden.