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Mit weichen Knien und sehr lebendig geht April durch die Straßen von Rom. Das Licht ist so hell, als hätte sie den Himmel von oben mitgebracht. Ein Taxi bringt sie zum Bahnhof. Sie fahren mit dem Zug weiter nach Syrakus, wo ein Freund von Michael sie erwartet. Unterwegs spürt April, wie sie leichter wird, Ballast von ihr abfällt. Sie sitzt eingequetscht zwischen italienischen Familien, versteht kein Wort, knabbert mit Wohlbehagen an ihren Fingernägeln. Als sie in Syrakus aussteigen, strafft sich Michael, doch sein Mund bleibt schmal. Er wird von einem glatzköpfigen Mann begrüßt, der laut seinen Namen ruft. Der Mann ähnelt einem lächelnden Delphin. Das ist Marco, sagt Michael und stellt sie einander vor. Sein Freund ist Herzchirurg, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, sie werden gemeinsam durch Sizilien fahren; das hatten sie schon lange vor, und nun ist April dabei. Marco führt sie zu seinem Auto, sie steigen in eine klapprige rostrote Kiste und fahren zu seiner Wohnung. Michael schließt erschöpft die Augen, während sie mit seinem Freund redet, obwohl keiner ein Wort des anderen versteht, Marco kann außer seiner Muttersprache radebrechend Englisch, sie nur Deutsch. Sie sieht aus dem Autofenster, staunt über die fremde Vegetation. Marco erwidert ihre Begeisterung, sie deutet auf einen Eukalyptusbaum, er zeigt auf eine große Palme, die Verständigung mit ihm bereitet ihr ein schwereloses Vergnügen.

Sie schätzt ihn auf Anfang vierzig, er ist mittelgroß, kompakt, vom Profil her könnte er wirklich ein Delphin in Menschengestalt sein.

In seiner großen, hellen Wohnung kann April außer einer breiten Matratze im Schlafzimmer keine Möbel entdecken, nur Kisten, Berge von Kisten, in der Küche stehen immerhin Tisch und Stühle. Marco wohne seit zehn Jahren hier, erklärt ihr Michael, sei aber noch nicht dazu gekommen, seine Sachen auszupacken. Auf einem Pappkarton liegen versteinerte Muscheln, eine Amphore, die Marco aus dem Meer geholt hat, er ist ein leidenschaftlicher Taucher. Durch die geöffneten Fensterflügel fällt Sonnenlicht in die Küche, sie trinken starken, süßen Kaffee, essen Thunfisch und Tomaten. Michael kann sich mit Marco auf Italienisch verständigen, während April in einer Zwischenwelt verharrt, auf freundliche Weise mit den ihr fremden Lauten verbunden. Sie kann sich nicht entsinnen, sich jemals so wohlgefühlt zu haben.

Am frühen Nachmittag brechen sie auf, April sitzt vorn bei Marco, während Michael sich hinten an den Rücksitz lehnt, mit schmalem Mund, durch die Nase atmend, wie er es immer tut, wenn er sich nicht wohlfühlt. Auch Marco hat bei ihm keine Störung festgestellt, sein Herz schlage kräftig und gesund.

Sie lassen das Auto am Straßenrand stehen und laufen ein kurzes Stück zur Küste. Marco zieht einen Tauchanzug an und lässt sich mit Schnorchel und Flossen ins Wasser fallen. April setzt sich neben Michael, um sie herum Sand, Kiesel, Muscheln, Muschelschalen, und sie muss daran denken, dass Julius als Tier gern eine Muschel wäre. Warum eine Muschel, Julius? Sie entkorkt die mitgebrachte Weinflasche, trinkt daraus, reicht sie Michael. Ich liebe das Meer, sagt sie.

Es ist nur Wasser, sagt er.

Sie holt Zigaretten aus ihrer Tasche und zündet sich eine an.

Sie möchte ihm gern etwas von ihrer Leichtigkeit abgeben, legt ihm die Hand auf die Schulter, streicht ihm über den Kopf, sein Haar ist voll und lockig, eigentlich eine Pracht, doch er seufzt nur. Weißt du, sagt er, dass der erste Asteroid in Sizilien entdeckt wurde?

Natürlich weiß ich das, sagt sie und lacht.

Die Sonne brennt, es ist windstill. Michael fächelt sich mit einem Notizbuch Luft zu, seine Nase ist spitz, Schweißtropfen bedecken seine Stirn, kurz ähnelt er einer gequälten Frau, die zu früh in die Wechseljahre gekommen ist. Er hat wirklich etwas Weibliches an sich, denkt April, und sein Mund kann ein richtiger Schmollmund sein. Das Notizbuch ist mit Kreuzen vollgemalt, Michael trägt auch seine Gedanken ein oder Splitter einer Erzählung, und er liest ihr jedes Wort vor.

Sie ist froh, als Marco wieder auftaucht, mit gefüllten Netzen in beiden Händen, und als er näher kommt, erkennt sie darin stachlige dunkelbraune Kugeln.

April hat noch nie Seeigel gegessen. Marco breitet eine Decke über Sand und Steine, es gibt Weißbrot, sie trinken Wein und löffeln das orangefarbene Zeug aus den Schalen. Sie kommt sich vor wie in einem französischen Film, das ist nicht echt, denkt sie, so schön kann es gar nicht sein. Erst bei der Vorstellung, dass Schwarze Paul, Sputnik und all die anderen sie so sehen würden, löst sich der Knoten, und sie könnte losheulen vor Freude. Seht ihr, euer Rippchen versteht es zu leben, flüstert sie. Auf meine Freunde, sagt sie zu Marco und Michael und stößt mit ihnen an.

April schließt die Augen, geblendet vom Licht, hört Michael geräuschvoll ausatmen, als habe er Schmerzen. Sie beschließt, sich einen Gemüseschneider zu kaufen, wenn sie wieder zu Hause ist, bei einem dieser Straßenverkäufer, die ihre Waren wie auf einer Theaterbühne anpreisen und vorführen; wie oft hat April während einer solchen Darbietung fasziniert auf die Gurkenscheiben, Möhrenwürfel und Zwiebelringe gestarrt, den frischen Duft eingesogen und darüber die Zeit vergessen. Als sie die Augen wieder öffnet, schreibt Michael etwas in sein Notizbuch, er hebt den Kopf, lächelt sie an, wechselt mit Marco ein paar Worte auf Italienisch, und beide Männer lachen laut. Er kann sich mühelos regenerieren, von einer Sekunde auf die andere das aus dem Takt geratene Herz vergessen und fröhlich sein. Als sie nach einem Seeigel greift, schießen ihr drei Stachel in die Hand, einer davon tief unter den Fingernagel. Schreiend springt sie auf, schüttelt die schmerzende Hand. Während Marco sie tröstet, gibt Michael den Dolmetscher: Es sei nicht schlimm, aber sie müssen ins Krankenhaus, um die Stacheln richtig entfernen zu lassen. Während der Fahrt kurbelt sie das Fenster herunter und hält die Hand in den Wind, der Schmerz ist nur noch ein leichtes Tuckern. Habe ich mich sehr blöd aufgeführt, fragt sie Michael.

Er lächelt ganz entspannt und streichelt ihren Nacken. Wenn es ihr schlecht geht, scheint ihm das Kraft zu geben. Sein Kosename für sie lautet: Kleines. Als sie einmal nachts betrunken und ramponiert zu ihm nach Hause kam, hat er sie in der Badewanne gewaschen und mit ihr gesprochen, als wäre sie ein kleines Kind.

Im Krankenhaus wird sie von einer kräftigen Frau verarztet, die ihr ohne viel Firlefanz die Stacheln aus der Hand zieht, einen Verband anlegt und sie mit einem Tätscheln verabschiedet.

Sie übernachten in Schlafsäcken bei Marco, brechen anderntags sehr früh auf.

Im Auto ist es schon heiß. Die Sonne ist wie ein hellrotes Loch am Himmel, ein Feuerschlund, stellt sich April vor, in dem sie nicht verschwinden möchte. Sie ist da, ganz und gar da, Vergangenheit und Zukunft in weite Ferne gerückt. Sie fahren an Olivenhainen, Papyruspflanzen, Gummibäumen vorbei, fahren über kurvenreiche Straßen in die Berge, überall roter Sand. Marco hat das Radio angemacht, und wenn er mit ihr spricht, nickt sie oder lächelt. Dann versinkt jeder wieder im eigenen Schweigen, untermalt von kitschiger Musik. Unterwegs halten sie oft an, besichtigen kleine Kirchen, April bestaunt Knochen hinter Glasvitrinen, daneben bunt schillernder Krimskrams, Flakons mit Flüssigkeiten in allen möglichen Farben, türkis, marineblau, rotviolett. Nachmittags sitzt Michael mit verschränkten Armen im Auto, sehr müde und schwach, das Licht verleiht seiner Haut einen fahlgelben Schimmer. Sie hat keine Lust, ihn anzusprechen, ihn zu fragen, wie es ihm geht. Könntest du bitte, sagt er, und sie ahnt, was jetzt kommt, sie soll ihm die Nadeln setzen. Marco parkt das Auto unter einem großen, Schatten spendenden Baum. Sie steigt aus und sucht in ihrer Tasche nach den Nadeln. Michael lehnt sich in seinen Sitz zurück, sie beugt sich über ihn, desinfiziert seine Ohren, dann setzt sie die feinen Stahlnadeln und stellt sich dabei das Kunststoffohr vor, an dem sie üben musste. Sie versucht, die richtigen Punkte zu treffen, an einer Stelle quillt ein winziger Blutstropfen aus dem Einstich. Michael wirkt zufrieden, sein Gesicht entspannt sich.