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Abends werden sie in einer kleinen Küstenstadt von einem Restaurantbesitzer erwartet, dem Marco mit einer schwierigen Operation das Herz gerettet hat. Sie werden stürmisch begrüßt und umarmt, bekommen den besten Tisch, der Koch verwöhnt sie bis spät in die Nacht mit vielen kleinen Speisen. Noch nie hat April einen solchen Wohlgeschmack genossen. Der Koch kommt ihr vor wie ein Abkömmling von Zwerg Nase, das Märchen hat sie als Kind oft gelesen.

Sie übernachten bei dem Restaurantbesitzer, der ihr am nächsten Morgen schon ganz vertraut vorkommt. Später, während der Weiterfahrt, träumt April mit offenen Augen. In Taormina begegnen sie im antiken Theater einem Mann, der vor ihnen stehen bleibt und mit erhobenen Armen einen Text rezitiert, bevor er weitergeht. Marco hebt ebenfalls die Arme, um dem Mann zu antworten, hinter ihm sind im flirrenden Licht die Umrisse des Ätna zu erkennen. Ein Gedicht, sagt Michael, ich glaube, von Petrarca, und April wird plötzlich sehr deutlich bewusst, dass sie das ohne ihre Ausreise nie erlebt hätte. Sie muss an den Journalisten aus München denken, an seine Begeisterung über das Echte und Unverfälschte in ihrem Land, und wird erst jetzt wütend. Er konnte wieder wegfahren, denkt sie, hatte die Wahl zwischen Leipzig und Venedig.

In Armerina werden sie vom Bürgermeister durch die Villa del Casale geführt. Fast alle Böden des Hauses sind mit farbigen Mosaiken bedeckt, dargestellt sind Wildesel, Raubkatzen, Antilopen, Steinböcke, doch am meisten beeindruckt April ein Tigerfang in Indien. Dem Tiger wird eine Kristallkugel zugeworfen, er glaubt, in seinem eigenen Spiegelbild eines seiner Jungen zu erkennen, das lenkt ihn von den Jägern ab, die ihn nun leicht einfangen können. Sie steht lange davor, Michael hat sich bei ihr eingehakt, sein Kopf liegt auf ihrer Schulter. Abends essen sie mit dem Bürgermeister, dem Marco mehrere Stents eingesetzt hat, Pastinaken in Rosmarin, gegrillten Kürbis mit Lorbeer, eingelegte rote Zwiebeln.

Am nächsten Tag kommen sie in ein kleines Dorf, wo sie ein ehemaliger Friseur in seiner Küche empfängt, in der er auch sein Auto geparkt hat. Kinder und Frauen sitzen um den Tisch, und der Friseur, ein älterer hochgewachsener Herr mit krächzender Stimme, nimmt Aprils schräg geneigten Kopf, küsst sie links und rechts und wiederholt, was Marco ihm zuruft: Mama April. Sie ist also Mama April, so nennt sie Marco. Es ist ihr recht, sehr recht sogar. Marco hat dem Friseur vor ein paar Jahren einen wandernden Granatsplitter entfernt, und das feiern sie bei jedem Wiedersehen mit sehr viel Grappa.

Am nächsten Morgen ist sie verkatert, ihr Haar noch kürzer als sonst, und Michael hat eine Glatze. Unterwegs im Auto ist sie wie betäubt von der Schönheit der Landschaft, während sie Michael hinter sich stöhnen hört. Sie dreht sich um, legt ihm die Hand aufs Gesicht, ohne Haare wirkt es noch eingefallener. Sie haben den Sonnenaufgang um wenige Minuten verpasst. Er fragt sie, ob sie ihm die Nadeln setzen kann, nuschelnd, als wäre seine Zunge geschwollen, und plötzlich muss sie loslachen. Es ist kein schönes Lachen. Michael kneift die Augen zusammen und blinzelt so heftig, dass sie seinen Wimpernschlag zu hören glaubt. Er ist genauso wütend wie ich, denkt sie, spürt ihre Mundwinkel zittern, spürt, wie sich der Knoten unter ihrer letzten Rippe löst, rote Wutpfeile verschießt, mit einer Wucht, die ihr den Atem aus dem Körper zieht. Ihr Atem fegt alles beiseite, die Schönheit der vergangenen Tage, die Geborgenheit, die sie empfunden hat, die Freude. Als wäre ihr Körper ein Hochdruckgerät, aus dem ihr Atem mit einer Geschwindigkeit entweicht, die Häuser zum Einstürzen bringen könnte. Und Menschen. Nähe. Liebe. Sie flucht, schreit, beschimpft Michael auf wüsteste Art, trommelt unablässig an die Scheiben. Marco hält an, sie nimmt ihre Tasche, reißt die Tür auf und rennt davon. Schon während der ersten Schritte setzt sich das Gefühl in ihr fest: Alles ist vorbei. Unwiderruflich hat sie gerade zerstört, was ihr lieb und wichtig ist, hat sich in etwas hineingesteigert, was niemand nachvollziehen kann. Sie hört auf zu rennen, geht mit traumartiger Langsamkeit weiter auf einer riesigen Weltkarte, von Afrika nach Jugoslawien, ein Versinken in Orten, wo sie nie sein wird. Scher dich dahin, wo du herkommst, die Stimme ihrer Mutter, und April wird es akzeptieren, sich endlich ergeben. Sie weiß nicht, wie lange sie geht, die Sonne brennt, ihr ist schwindlig, sie kann sich nicht entsinnen, wie viel sie in der letzten Nacht getrunken hat. Als sie ein Städtchen erreicht, setzt sie sich in eine Bar, bestellt Grappa, einen nach dem anderen, bezahlt, torkelt irgendwohin. Es ist Sommer, denkt sie, so sieht also dieser Sommer aus. Sie lehnt an der Mauer einer kleinen Kathedrale und weint. Sie friert. Spürt das Fieber kommen, mit dem Wunsch, dass ein Gott sie erlöst. Ab und an wacht sie auf, ist froh über die Hitze in ihren Gliedern, sie ist krank, vielleicht wird sie sterben, vielleicht wird man ihr dann vergeben. Sie möchte dort sein und nicht hier, ohne zu wissen, wo dort ist. Als sie schließlich die Stimmen von Michael und Marco hört, ist sie unfähig zu antworten.

April erwacht in einem Krankenhausbett, neben ihr sitzt Michael und hält ihre Hand. Marco hat dir eine Spritze gegeben, sagt er, du hattest über vierzig Fieber.

Sie gibt sich schwächer, als sie sich fühlt, danke, sagt sie mit sehr leiser Stimme. Dann fällt ihr ein, was geschehen ist, und eine Welle von Scham überrollt sie, sie will sich entschuldigen, Abbitte leisten, es tut mir so leid, sagt sie.

Es war das Fieber, sagt Michael, es hat dich völlig aus der Bahn geworfen.

Sie weiß genau, dass es nicht am Fieber lag, doch sie schweigt. April zieht sich an, folgt Michael auf wackligen Beinen nach draußen, sie ist durstig, sie trägt ein helles Kleid mit schwarzen Punkten, kommt sich vor wie ein staksender Storch. Als sie Marco sieht, senkt sie verlegen den Blick, doch er nimmt sie in die Arme, spricht in seiner Sprache, es klingt beruhigend, und sie ist zutiefst erleichtert.

Während sie in den nächsten Stunden im Auto sitzt, ist ihr zumute wie stundenlang durchgekitzelt; das schlechte Gewissen schleicht sich in die tauben Glieder, gefolgt vom Misstrauen, sie begreift nicht, warum sie gerade so viel Schutz erfahren hat. Aber sie ist auch dankbar, weil sie nicht verstoßen, sondern geduldet, sogar aufgenommen wird, am liebsten würde sie auf die Knie fallen und sagen: Ich werde immer brav sein. Sie schwört sich, Rücksicht zu nehmen auf alle Krankheiten Michaels.

Sie setzt ihm die Nadeln, sagt: Was für ein wunderschöner Tag, streichelt sein Gesicht, wenn es sich missmutig zeigt, ihre Stimme ist sanft und leise. Als sie die Küste entlangfahren, stellt sie sich vor, wie sie das Meer durchschwimmt, ganze Ozeane hinter sich lässt und nie mehr aufhört zu schwimmen.

In Modica lässt sich April die krümelige, nach Zimt schmeckende Schokolade im Mund zergehen, sie kauft eine dicke Tafel für Julius, und als sie neben den Einheimischen in Noto auf der Bank sitzt, verspürt sie in dem honigfarbenen Licht bei aller Benommenheit einen Anflug von Zuversicht. Sie gehen gemeinsam durch prachtvolle Gassen, an Palästen vorbei, sitzen unter Olivenbäumen oder auf Steintreppen. Sie denkt, es könnte doch alles gut werden, gleichzeitig klingt dieses Gutwerden in ihren Ohren, als würde jemand auf eine Wunde von ihr pusten. In Avola isst sie Brandteigkrapfen, Marco bringt ihr ein paar italienische Wörter bei. Himmeclass="underline" cielo, Sehnsucht: nostalgia, Brunnen: pozzo. April spricht ihm die Wörter sehr ernsthaft nach.

Michael hat wieder diesen Blick, um den Mund einen Zug von Überdruss und Kränkung. Sie sieht sich in seiner Sonnenbrille gespiegelt, während sie ihm die Nadeln setzt. Er hat seit zwei Tagen nichts Richtiges gegessen, auch nicht das richtige Wasser gefunden, deshalb trinkt er falsches Wasser und fühlt sich schlapp. Er braucht einen ganz bestimmten Langkornreis, der sich nirgendwo auftreiben lässt. Er sagt, er hofft auf einen Asteroiden, der ihn erlösen wird. April übt Nachsicht, umsorgt ihn geduldig, versucht, ihn aufzuheitern. Während der Autofahrt schweigen sie meist, Marco singt manchmal zur Musik aus dem Radio. Sie muss an Hans denken und spürt eine Welle der Zuneigung. Was für ein guter Vater er Julius ist und wie oft sie ihm unrecht getan hat. Ich bin intakt, hat er ihr beim Abschied gesagt, als wollte er ihr eine sorglose Reise ermöglichen. Sie wünscht Hans in Gedanken, dass alles gut für ihn wird, und dann fragt sie sich, warum immer alles gut sein muss. Hier, in dieser Landschaft, hat sie zum ersten Mal das Gefühl, in Westberlin zu Hause zu sein. Und sie hat eine ungeheure Sehnsucht nach Julius. Sie stellt sich vor, mit ihm Federball zu spielen, sein Gesicht in die Hände zu nehmen, ihm Geschichten zu erzählen.