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»Eine Wärmflasche. Wegen Ihrer Lungenentzündung.«

»Vortrefflich. Aber ich wärme meine Lungen mit Kognak.« Ravic zog ein paar Scheine aus der Tasche.

»Mein Herr, Sie haben sicher keine Pyjamas. Ich kann Ihnen ein Paar geben.«

»Danke, Bruder.« Ravic sah den Alten an. »Sie würden mir sicher zu klein sein.«

»Im Gegenteil. Sie werden Ihnen passen. Es sind ganz neue. Im Vertrauen gesagt, ein Amerikaner hat sie mir einmal geschenkt. Dem hatte sie eine Dame geschenkt. Ich trage so etwas nicht. Ich trage Nachthemden. Sie sind ganz neu, mein Herr.«

»Gut, bringen Sie sie herauf. Wir können sie ja mal ansehen.«

Ravic wartete im Korridor. Drei Paar Schuhe standen vor den Türen. Ein Paar Zugstiefeletten mit ausgeleierten Gummizügen. Aus dem Raum dahinter klang ein brausendes Schnarchen. Die anderen beiden waren ein Paar braune Männerhalbschuhe und ein Paar hochhackige Damenlackschuhe mit Knöpfen. Sie standen vor derselben Tür und wirkten sonderbar verlassen, obschon sie nebeneinander standen.

Der Portier brachte die Pyjamas. Sie waren Prachtstükke. Blaue Kunstseide mit goldenen Sternen darauf. Ravic betrachtete sie eine Weile sprachlos. Er verstand den Amerikaner. »Herrlich, was?« fragte der Portier stolz.

Die Pyjamas waren neu. Sie waren sogar noch in dem Karton des Magazin du Louvre, in dem sie gekauft waren. »Schade«, sagte Ravic. »Ich hätte gern die Dame gesehen, die sie ausgesucht hat.«

»Sie können sie haben für diese Nacht. Sie brauchen sie nicht zu kaufen, mein Herr.«

»Was kostet die Miete?«

»Nach Belieben.«

»Sind Sie kein Franzose?«

»Doch. Aus St. Nazaire.«

»Dann sind Sie verdorben worden durch den Umgang mit Amerikanern. Außerdem — für diese Pyjamas ist nichts zuviel.«

»Freut mich, daß Sie Ihnen gefallen. Gute Nacht, mein Herr. Ich werde sie dann morgen bei der Dame abholen.«

»Ich werde sie Ihnen morgen früh selbst übergeben. Wecken Sie mich um halb acht. Klopfen Sie nur leise an. Ich höre es schon. — Gute Nacht.«

»Sehen Sie sich das an«, sagte Ravic zu Joan Madou und zeigte die Pyjamas. »Ein Kostüm für einen Weihnachtsmann. Dieser Portier ist ein Zauberer. Ich werde die Sachen sogar anziehen. Man muß nicht nur den Mut, sondern auch die Unbefangenheit zur Lächerlichkeit haben.«

Er ordnete die Decken auf der Chaiselongue. Es war ihm gleichgültig, wo er schlief, in seinem Hotel oder hier. Er hatte auf dem Korridor ein erträgliches Badezimmer gefunden und von dem Portier eine neue Zahnbürste bekommen. Alles andere war ihm egal. Die Frau war irgend etwas wie ein Patient.

Er füllte ein Wasserglas mit Kognak und stellte es mit einem der kleinen Gläser, die der Portier gebracht hatte, neben das Bett. »Ich glaube, das ist genug für Sie«, sagte er dann. »Es ist einfacher so. Ich brauche dann nicht mehr aufzustehen und nachzufüllen. Die Flasche und das andere Glas nehme ich herüber zu mir.«

»Ich brauche das kleine Glas nicht. Ich kann aus dem anderen trinken.«

»Noch besser.« Ravic packte sich auf der Chaiselongue zurecht. Es gefiel ihm, daß die Frau sich nicht weiter darum kümmerte, ob er es bequem hatte. Sie hatte erreicht, was sie wollte — jetzt entwickelte sie gottlob keine überflüssigen Hausfraueneigenschaften.

Er goß ein Glas voll und stellte die Flasche auf den Boden. »Salute!«

»Salute! Und danke!«

»Das ist in Ordnung. Ich hatte ohnehin nicht viel Lust, durch den Regen zu gehen.«

»Regnet es noch?«

»Ja.«

Das leise Klopfen kam von draußen durch die Stille, als wolle etwas hinein, grau, trostlos und ohne Form, etwas, das trauriger war als Traurigkeit — eine ferne, anonyme Erinnerung, eine endlose Welle, die heranwehte und zurückhaben und begraben wollte, was sie früher einmal herangebracht und auf einer Insel vergessen hatte — ein bißchen Mensch und Licht und Denken.

»Gute Nacht zum Trinken.«

»Ja — und eine schlechte, allein zu sein.«

Ravic schwieg eine Weile. »Daran haben wir uns alle gewöhnen müssen«, sagte er dann. »Das, was uns früher einmal zusammenhielt, ist heute zerstört. Wir sind heute auseinandergefallen wie eine Kette aus Glasperlen, deren Band zerrissen ist. Nichts ist mehr fest.« Er goß sein Glas aufs neue voll. »Als Junge habe ich einmal nachts auf einer Wiese geschlafen. Es war Sommer, und der Himmel war sehr klar. Bevor ich einschlief, sah ich den Orion über den Wäldern am Horizont stehen. Dann wachte ich auf, mitten in der Nacht — und der Orion stand auf einmal hoch über mir. Ich habe das nie vergessen. Ich hatte gelernt, daß die Erde ein Stern ist und sich dreht; aber ich hatte es gelernt, wie man vieles lernt, was in Büchern steht, und nie darüber nachgedacht. Jetzt zum erstenmal empfand ich, daß es wirklich so war. Ich fühlte, wie sie lautlos durch den ungeheuren Raum flog.

Ich fühlte es so stark, daß ich fast glaubte, mich festhalten zu müssen, um nicht heruntergeschleudert zu werden. Es kam wohl, weil ich, aufgewacht aus tiefem Schlaf, einen Augenblick verlassen von Gedächtnis und Gewohnheit, in den riesig verschobenen Himmel sah. Die Erde war plötzlich nicht mehr fest für mich — und sie ist es seitdem nie wieder ganz geworden.«

Er trank sein Glas aus. »Das macht manches schwerer und vieles leichter.« Er sah zu Joan Madou hinüber. »Ich weiß nicht, wie weit Sie sind«, sagte er. »Wenn Sie müde sind, antworten Sie einfach nicht mehr.‹.

»Noch nicht. Bald. Es ist noch eine Stelle, die wach ist. Wach und kalt.«

Ravic stellte die Flasche neben sich auf den Boden. Aus der Wärme des Zimmers sickerte langsam eine braune Müdigkeit in ihn hinüber. Die Schatten kamen. Das Wehen der Flügel. Ein fremdes Zimmer, Nacht, und draußen — wie ferne Trommeln — das monotone Klopfen des Regens — eine Hütte mit etwas Licht am Rande des Chaos, ein kleines Feuer in der Wildnis ohne Sinn — ein Gesicht, gegen das man sprach.

»Haben Sie das auch einmal gespürt?« fragte er.

Sie schwieg eine Weile. »Ja. Nicht so. Anders. Wenn ich tagelang mit niemandem gesprochen hatte und nachts umherging, und überall waren Menschen, die irgendwohin gehörten, die irgendwohin gingen, irgendwo zu Hause waren. Nur ich nicht. Dann wurde langsam alles unwirklich, als wäre ich ertrunken und ginge durch eine fremde Stadt unter Wasser...«

Jemand kam draußen die Treppe hinauf. Ein Schlüssel klirrte, und eine Tür klappte. Gleich darauf rauschte die Wasserleitung. »Warum bleiben Sie in Paris, wenn Sie niemand hier kennen?« fragte Ravic. Er fühlte, daß er schläfrig wurde.

»Ich weiß nicht. Wohin soll ich sonst gehen?«

»Haben Sie nichts, wohin Sie zurückgehen können?«

»Nein. Man kann auch nirgendwohin zurückgehen.«

Der Wind jagte einen Regenschauer über das Fenster. »Weshalb sind Sie nach Paris gekommen?« fragte Ravic.

Joan Madou antwortete nicht. Er glaubte schon, sie sei eingeschlafen. »Raczinsky und ich kamen nach Paris, weil wir uns trennen wollten«, sagte sie dann.

Ravic hörte es, ohne überrascht zu sein. Es gab Stunden, wo einen nichts überraschte. Im Zimmer gegenüber begann der Mann, der kurz vorher gekommen war, zu kotzen. Man hörte sein Stöhnen gedämpft durch die Tür.

»Warum waren Sie dann so verzweifelt?« fragte Ravic.

»Weil er tot war! Tot! Plötzlich nicht mehr da! Nie zurückzuholen! Tot! Nie mehr etwas zu machen! Verstehen Sie das nicht?« Joan Madou hatte sich im Bett halb aufgerichtet und starrte Ravic an. Weil er fortgegangen ist, bevor du es tun konntest. Weil er dich allein gelassen hat, bevor du dafür bereit warst.

»Ich... ich hätte anders sein sollen zu ihm... ich war...«

»Vergessen Sie das. Reue ist das Nutzloseste in der Welt. Man kann nichts zurückholen. Man kann nichts gutmachen. Wir wären sonst alle Heilige. Das Leben hat nicht beabsichtigt, uns vollkommen zu machen. Wer vollkommen ist, gehört in ein Museum.«