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»Können Sie den Totenschein nicht selbst ausstellen?« fragte die Frau.

»Nein«, sagte Ravic. »Dazu brauchen wir einen französischen Arzt. Am einfachsten den, der ihn behandelt hat.«

Als Bonnet die Tür hinter sich schloß, wurde es plötzlich still. Viel stiller, als wenn nur ein einzelner Mensch das Zimmer verlassen hätte. Der Autolärm von der Straße bekam etwas Blechernes, als pralle er gegen eine Wand schwerer Luft, durch die er nur mühsam sickerte. Nach dem Hin und Her der Stunde vorher begann der Tote jetzt zum ersten Male dazusein. Sein mächtiges Schweigen füllte den billigen Raum, und es war gleichgültig, ob er glänzend rote Seidenpyjamas trug — er herrschte, wie selbst ein toter Clown herrscht — weil er sich nicht mehr bewegte. Was lebte, bewegte sich — und was sich bewegte, konnte Kraft haben und Grazie und Lächerlichkeit — aber nicht die fremde Majestät dessen, das sich nie mehr bewegen, sondern nur noch zerfallen konnte. Das Vollendete allein hatte es — und der Mensch war nur im Tode vollendet — und nur für kurze Zeit. »Sie waren nicht verheiratet?« fragte Ravic. »Nein. Warum?« »Das Gesetz. Die Hinterlassenschaft. Die Polizei wird eine Aufstellung darüber machen, was Ihnen und was ihm gehört. Was Ihnen gehört, behalten Sie. Was ihm gehört, wird von der Polizei festgehalten. Für Angehörige, die sich melden sollten. Hat er welche?«

»Nicht in Frankreich.«

»Sie haben mit ihm gelebt?«

Die Frau antwortete nicht.

»Lange?«

»Zwei Jahre.«

Ravic sah sich um. Haben Sie keine Koff er?«

»Doch... sie waren hier... dort, drüben an der Wand. Gestern abend noch.«

»Aha, der Wirt.« Ravic öffnete die Tür. Die Putzfrau mit dem Besen prallte zurück. »Mutter«, sagte er, »für Ihr Alter sind Sie zu neugierig. Rufen Sie den Wirt.«

Die Putzfrau wollte protestieren.

»Sie haben recht«, unterbrach Ravic. »In Ihrem Alter hat man nur noch die Neugier. Aber rufen Sie den Wirt.«

Die Alte muffelte etwas, schob den Besen vor sich her und entschwand.

»Es tut mir leid«, sagte Ravic. »Doch es hilft nichts. Es mag roh aussehen, aber wir müssen es besser jetzt gleich machen. Es ist einfacher, wenn Sie es im Augenblick vielleicht auch nicht verstehen.«

»Ich verstehe es«, sagte die Frau.

Ravic sah sie an.

»Sie verstehen es?« »Ja.«

Der Wirt kam herein, einen Zettel in der Hand. Er klopfte nicht an.

»Wo sind die Koffer?« fragte Ravic.

»Zuerst einmal die Rechnung. Hier. Erst wird die Rechnung bezahlt.«

»Zuerst einmal die Koffer. Niemand hat sich bis jetzt geweigert, die Rechnung zu bezahlen. Das Zimmer ist noch immer vermietet. Das nächste Mal klopfen Sie an, wenn Sie hereinkommen. Geben Sie die Rechnung her, und lassen Sie die Koffer bringen.«

Der Wirt starrte ihn wütend an. »Sie werden Ihr Geld bekommen«, sagte Ravic.

Der Patron zog ab. Er warf die Tür hinter sich zu.

»Ist Geld in den Koffern?« fragte Ravic die Frau.

»Ich... nein, ich glaube nicht.«

»Wissen Sie, wo es ist? In seinem Anzug? Oder war keins da?«

»Er hatte Geld in seiner Brieftasche.«

»Wo ist sie?«

»Unter...« Die Frau zögerte. »Unter seinem Kopfkissen hatte er sie meistens.«

Ravic stand auf. Er hob vorsichtig das Kopfkissen mit dem Kopf des Toten und holte darunter eine lederne schwarze Brieftasche hervor. Er gab sie der Frau. »Nehmen Sie das Geld heraus und alles, was wichtig für Sie ist. Rasch. Es ist keine Zeit für Sentimentalität. Sie müssen leben. Zu was sonst ist es nütze? Soll es bei der Polizei verschimmeln?«

Er blickte eine Minute aus dem Fenster. Ein Lastwagenchauffeur beschimpfte auf der Straße einen Kutscher mit einem von zwei Pferden gezogenen Grünkramwagen. Er beschimpfte ihn mit der vollen Überlegenheit, die ein schwerer Motor verleiht. Ravic wandte sich um. »Fertig?«

»Ja.«

»Geben Sie mir die Brieftasche wieder zurück.« Er schob sie unter das Kissen. Er fühlte, daß sie dünner war als vorher. »Packen Sie die Sachen in Ihre Handtasche«, sagte er.

Sie tat es gehorsam. Ravic nahm die Rechnung und sah sie durch. »Haben Sie hier schon einmal eine Rechnung bezahlt?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube schon.«

»Dies ist eine Rechnung für zwei Wochen. Bezahlte...« Ravic zögerte einen Moment. Es schien ihm sonderbar, von dem Toten als Herrn Raszinsky zu sprechen. »Wurden die Rechnungen immer pünktlich bezahlt?«

»Ja, immer. Er sagte oft, daß... in seiner Lage es wichtig wäre, immer pünktlich da zu zahlen, wo man müßte.«

»Dieser Halunke von Wirt! Haben Sie eine Ahnung, wo die letzte Rechnung sein kann?«

Es klopfte. Ravic konnte sich nicht enthalten zu lächeln. Der Hausknecht brachte die Koffer herein. Der Wirt folgte ihm.

»Sind das alle?« fragte Ravic die Frau.

»Ja.«

»Natürlich sind das alle«, grunzte der Wirt. »Was dachten Sie denn?«

Ravic nahm einen kleinen Koffer. »Haben Sie einen Schlüssel dazu? Nein? Wo können die Schlüssel sein?« »Im Schrank. In seinem Anzug.«

Ravic öffnete den Schrank. Er war leer. »Nun?« fragte er den Wirt.

Der Wirt wandte sich an den Valet: »Nun?« fauchte er.

»Der Anzug ist draußen«, stotterte der Valet.

»Warum?«

»Zum Bürsten und Reinigen.«

»Das braucht er wohl nicht mehr«, sagte Ravic.

»Bring ihn sofort herein, verdammter Dieb«, schnauzte der Wirt.

Der Hausdiener gab ihm einen kuriosen, zwinkernden Blick und ging. Gleich darauf brachte er den Anzug herein. Ravic schüttelte das Jackett, dann die Hose. Es klirrte in der Hose. Ravic zögerte einen Moment. Sonderbar, in die Hosentasche eines toten Mannes zu greifen. Als wäre der Anzug mitgestorben. Und sonderbar, so zu denken. Ein Anzug war ein Anzug.

Er nahm die Schlüssel heraus und öffnete die Koffer. Obenauf lag eine Segeltuchmappe. »Ist es diese?« fragte er die Frau. Sie nickte.

Ravic fand die Rechnung sofort. Sie war quittiert. Er zeigte sie dem Wirt. »Sie haben eine Woche zuviel gerechnet.«

»So?« schnappte der Patron zurück. »Und dann der Ärger? Die Schweinerei? Die Aufregung? Das ist wohl nichts, was? Daß ich meine Galle wieder fühle, das ist wohl inbegriffen, wie? Sie haben ja selbst gesagt, daß Gäste ausziehen werden! Der Schaden ist viel höher! Und das Bett? Das Zimmer, das ausgeschwefelt werden muß? Das Bettuch, das verdreckt ist?«

»Das Bettuch ist auf der Rechnung. Außerdem ein Diner für fünfundzwanzig Frank, das er gestern abend noch gegessen haben soll. Haben Sie etwas gegessen gestern?« fragte er die Frau.

»Nein. Aber kann ich es nicht einfach bezahlen? Es ist... ich möchte es rasch erledigen.«

Rasch erledigen, dachte Ravic. Wir kennen das. Und dann — die Stille und der Tote. Die Keulenschläge des Schweigens. Besser so — wenn es auch scheußlich ist. Er nahm einen Bleistift vom Tisch und rechnete. Dann gab er die Rechnung an den Wirt zurück.

»Einverstanden?«

Der Patron warf einen Blick auf die Endziffer. »Ich bin doch nicht verrückt?«

»Einverstanden?« fragte Ravic noch einmal.

»Wer sind Sie überhaupt? Was mischen Sie sich hier ein?«

»Ich bin der Bruder«, sagte Ravic. »Einverstanden?«

»Plus zehn Prozent Service und Steuer. Sonst nicht.«

»Gut.« Ravic fügte die Zahl hinzu. »Sie haben zweihundertzweiundneunzig Frank zu zahlen«, sagte er zu der Frau.

Sie nahm drei Hundert-Frank-Scheine aus der Tasche und gab sie dem Wirt, der sie nahm und sich zum Gehen wandte. »Um sechs Uhr muß das Zimmer geräumt sein. Sonst rechnet es für einen andern Tag.«

»Acht Frank zurück«, sagte Ravic.