«Und wie war es wirklich?«
«Sie hatte keine Unterwäsche an«, sagte Dee-Dee seelenruhig.
«Sie trug nur ein langes, signalrotes, trägerloses Kleid, fast bis zu den Hüften geschlitzt. Fragen Sie Mackie. Sie hat versucht, sie wiederzubeleben.«
«Ähm… ziemlich viele Frauen tragen keine Unterwäsche«, warf ich ein.
«Tatsächlich?«Sie traf mich mit einem ironischen Blick.
«Ich werde nicht mehr so schnell rot.«
«Also möchten Sie jetzt noch Kaffee oder nicht?«
«Ja, bitte.«
Sie entfernte sich in Richtung Küche, und ich las mich weiter durch die Ausschnitte, von >Keine Strafverfolgung wegen Todesfall auf Shellerton-Hof< bis zu >Olympias Vater veranlaßt Zivilklage< und Friedensrichter gibt Fall Nolan Everard an das Landesgericht weiter<. Weil das Verfahren danach vor Gericht anhängig war, mußten die Zeitungen schweigen, und es gab keine weiteren Schnipsel.
Nachdem ich einen Stapel Statistiken zum Ende der Springsaison durchgeackert hatte, stieß ich auf folgende eigenartige Meldung, die eine Tageszeitung in Reading an einem Freitag im Juni veröffentlicht hatte:
>Pferdepflegerin vermißt< lautete die Schlagzeile, und daneben war ein Foto von Tremayne, der immer noch gutgelaunt lachte.
Angela Brickell (17), angestellt als >Stallbursche< bei dem prominenten Pferdetrainer Tremayne Vickers, ist am Donnerstag nachmittag nicht zur Arbeit erschienen und wurde seither nicht mehr gesehen. Vickers sagte, es passiere nur allzuoft, daß sich Stallburschen ohne ein Wort davonmachen, es verwundere ihn jedoch, daß sie sich nicht vorher ihren ausstehenden Lohn ausbezahlen ließ. Wer etwas über den Verbleib von Angela Brickell weiß, wird gebeten, sich an die Polizei zu wenden.
Angela Brickells Eltern waren, wie die von Olympia, laut Zeitungsbericht >sehr verzweifelte.
Kapitel 6
Im Verlauf der darauffolgenden Woche hatten auch alle überregionalen Zeitungen über das Verschwinden von Angela Brickell berichtet. Obwohl in allen Blättern zwei Monate zuvor etwas über den Tod von Olympia in Shel-lerton zu lesen gewesen war, zog niemand konkrete Schlüsse aus den Fakten.
Ich erfuhr, daß Angela mit fünf anderen Mädchen, die sie als >launisch< bezeichneten, in einem Quartier bei den Stallungen wohnte. Ein unscharfes Foto von ihr zeigte das Gesicht eines Kindes, nicht das einer jungen Frau. Der Aufforderung >Finden Sie dieses Mädchen< war wohl von Anfang an nicht sehr viel Aussicht auf Erfolg beschieden, wenn die Leser sich darauf verlassen mußten, das Mädchen aufgrund des Zeitungsbildes zu erkennen.
Ich fand keinerlei Nachricht, daß man sie gefunden hätte, und nach ungefähr einer Woche versiegten die Zeitungsausschnitte zu ihrem Fall. Für den Juli existierten überhaupt keine Schnipsel, es schien, als hätte zu dem Zeitpunkt die Bruderschaft der Jagdrennen geschlossen Urlaub genommen; im August jedoch ging es gleich mit mehreren Berichten über die Eröffnung der neuen Saison in Devon los. >Vickers siegt weiter!<
Nolan hatte einen Sieg auf einem von Fionas Pferden heimgeholt:»Der überaus bekannte Amateur, der zur Zeit auf Kaution frei ist und einer Verhandlung wegen tätlichen Angriffs mit Todesfolge entgegensieht.«
Anfang September tauchte Nolan erneut in den Nachrichten auf, diesmal als Entlastungszeuge für Tremayne, der vom Jockey Club beschuldigt wurde, eines seiner Pferde gedopt zu haben.
Sogar nach dieser kurzen Zeit unserer Bekanntschaft schien mir Tremayne der letzte zu sein, der seine ganze Existenz wegen einer solchen Bagatelle aufs Spiel setzte, und so las ich ungläubig, daß eines seiner Pferde positiv auf einen Test reagiert hatte, der Spuren der Stimulansmittel Theobromin und Koffein nachwies, verbotene Substanzen also.
Das betreffende Pferd hatte im Mai ein Amateurrennen gewonnen. Nolan, der es für die Besitzerin, Fiona, geritten hatte, sagte aus, er habe nicht die geringste Vorstellung, wie die Drogen hätten verabreicht werden können. Er selbst war an diesem Tag für das Pferd verantwortlich gewesen, da Tremayne das Rennen nicht besucht und das Tier in die Obhut seines Futtermeisters und eines Stallmädchens gegeben hatte. Weder der Aufseher noch Tremayne wußten etwas darüber, wie die Drogen zu dem Tier gelangt waren. Auch Mrs. Fiona Goodhaven konnte keine Erklärung abgeben, obwohl sie und ihr Mann beim Rennen anwesend waren.
Der Urteilsspruch des Clubs lautete dahingehend, daß es keine Möglichkeit gab, herauszufinden, wer dem Pferd das Mittel auf welchem Wege verabreicht hatte, da man das Mädchen, das für das Pferd verantwortlich gewesen war, nicht befragen konnte, weil sie, Angela Brickell, nicht aufzufinden war.
Angela Brickell. Du meine Güte, dachte ich.
Ungeachtet dessen war Tremayne der Anklage für schuldig erklärt und zu einem Bußgeld von fünfzehnhundert Pfund verurteilt worden. Nicht mehr als eine Kopfnuß, wie mir schien.
Beim Verlassen der Anhörung hatte Tremayne mit den Schultern gezuckt und gesagt:»So was kommt vor.«
Die Droge Theobromin, wußte ein Reporter zu berichten, läßt sich, ebenso wie Koffein, in ganz gewöhnlicher Schokolade aufspüren. So, so, so, dachte ich, langweilig darf es beim Rennsport wohl auch nie zugehen.
Der Rest des Jahres erwies sich im Vergleich eher als Talsohle, obwohl es auch da eine lange Reihe bemerkenswerter Siege zu verzeichnen gab. >Der Stall in Höchst-form< oder >Noch mehr Schwung bei Vickers< oder >Glo-ria Vicktoria<, je nachdem, welches Blatt oder welches Magazin man zu Rate zog.
Ich brachte das Jahr zu Ende und saß nachdenklich vor den Schachteln, als Tremayne mit einem Mantel voll kühler Heideluft hereingestürmt kam.
«Na, wie geht’s?«fragte er.
Ich zeigte auf den Stapel Ausschnitte neben der leeren Schachtel.»Ich habe mich durch das letzte Jahr gelesen, mit all seinen Siegern.«
Er strahlte.»Ich konnte einfach nichts falsch machen. Unglaublich. Manchmal läuft alles nach Plan. Dann gibt es wieder Jahre, in denen geht ein Virus um: Pferde brechen zusammen, Eigentümer sterben, eine furchtbare Zeit. Spielerglück, wie es so schön heißt.«
«Ist Angela Brickell jemals wieder aufgetaucht?«
«Wer? Ach, die. Nein. Weiß Gott, wo dieses dumme kleine Luder geblieben ist. Jeder Blödmann im Renngeschäft weiß, daß man Pferden beim Training keine Schokolade geben darf. Leider mögen die meisten Schokolade über alles. Jeder weiß auch, daß hier und da ein Riegel Mars einem Pferd nicht gleich zum Sieg verhilft, aber was will man machen, nach den Bestimmungen ist Schokolade eben ein Stimulans, Pech gehabt.«
«Hätte das Mädchen großen Ärger bekommen, wenn sie geblieben wäre?«
Er lachte.»Von mir bestimmt. Ich hätte sie rausgeschmissen, doch sie war schon weg, bevor ich erfuhr, daß das Pferd positiv getestet worden war. Ein reiner Routinetest. Fast jeder Sieger wird getestet. «Er unterbrach sich, setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber auf der anderen Seite des Tisches und starrte nachdenklich auf einen Stapel Ausschnitte.»Wissen Sie, es hätte jeder gewesen sein können, jeder hier vom Hof. Sogar Nolan selbst, obwohl ich nicht wüßte, warum er so etwas hätte tun sollen. Wie auch immer«, er zuckte die Achseln,»das passiert öfter, seitdem die Testverfahren so hochentwickelt sind. Gott sei Dank mahnen sie nicht gleich, so wie früher, bei jeder Unregelmäßigkeit automatisch den Trainer ab. Es muß schon kraß kommen, jenseits von Zufall oder Auslegung. Trotzdem lebt jeder Trainer mit einem hohen Risiko. Man ist irgendwelchen Schurken ausgeliefert, der puren Boshaftigkeit. Man trifft alle möglichen Vorkehrungen, aber dann hilft nur noch Beten.«
«Das würde ich gerne zitieren, wenn es Ihnen recht ist.«
Er blickte mich prüfend an.»Ich habe wohl doch einen guten Autor erwischt, was?«
Ich schüttelte den Kopf.»Sie haben einen, der sein Bestes geben wird.«