Erneut Luft holen. Ich sah mich nach Luftblasen um, hoffte ihn auf diese Weise zu finden, doch ich sah keine Blasen, nur einen roten Fleck auf dem Wasser, kurz vor mir, ein Kringel Rot in der trüben Flut.
Wenigstens hatte ich ihn gefunden. Ich tauchte auf die scharlachroten Streifen zu und ertastete ihn sofort, doch er bewegte sich nicht, und als ich ihn an die Oberfläche ziehen wollte, gelang es mir nicht.
Scheiße… Scheiße… Das blöde Wort rotierte in meinem Kopf. Ich tastete mich heran, packte Harry unter den Armen, meine Füße rutschten auf dem schlammigen Boden weg, und ich zog und zerrte, doch Harry hing fest. Ich probierte es wieder und wieder mit steigender Verzweiflung, bis er endlich von dort, wo er festhing, freikam und an die Oberfläche schnellte, um gleich darauf wie eine leblose Masse wieder nach unten gezogen zu werden.
Mit der eigenen Nase nur knapp über Wasser hielt ich seinen Kopf etwas höher als meinen, doch er atmete immer noch nicht. Ich umfaßte ihn, ließ sein Gesicht auf meines fallen und blies ihm in dieser unmöglichen Stellung meinen Atem ein, nicht gerade so, wie es im Buch stand, er flach auf dem Rücken und sonst alles unter Kontrolle, sondern einfach in seine offenen Nasenlöcher hinein, in seinen schlaffen Mund, so schnell ich konnte, in beide Öffnungen oder nur in eine, versuchte im Gleichtakt seinen Brustkorb zusammenzupressen, das zu tun, was seine eigene Zwischenrippenmuskulatur nicht mehr leistete, drückte seinen Brustkorb auseinander, damit die Luft hineinfließen konnte.
Man soll ja die Mund-zu-Mund-Beatmung nie unterbrechen, man muß immer weitermachen, auch wenn man die Hoffnung schon aufgegeben hat. Weiter, immer weiter, hatte ich gelernt. Nicht aufgeben. Niemals aufgeben.
Trotz des Auftriebs im Wasser war Harry sehr schwer. Meine Füße unten im Schlamm wurden taub. Ich preßte meinen Atem rhythmisch in ihn hinein, schneller als bei der normalen Atmung, ich preßte ihn zusammen, sagte ihm, befahl ihm in Gedanken, er solle wieder selbst die Verantwortung für sich übernehmen, komm zurück, komm zurück. Harry, komm zurück.
Ich hatte Angst um ihn, um Fiona, um sie alle, doch am meisten um Harry. Dieser Humor, diese Menschlichkeit; das durfte nicht einfach verschwinden. Ich hauchte ihm meinen Atem ein, bis mir selbst schwindlig war, und noch immer wollte ich nicht akzeptieren, daß es sinnlos war, daß ich ebensogut aufhören konnte.
Ich spürte den Ruck in seiner Brust, als ich sie immer noch im Rhythmus an meine preßte, und konnte es einen kurzen Moment lang nicht glauben, aber dann wand er sich in meinen Armen, hustete mir ins Gesicht, und ein Strahl schmutzigen Wassers schoß in hohem Bogen aus seinem Mund, dann fing er richtig zu husten an und schnappte nach Luft… verschluckte sich, japste, schnappte wieder, ein Pfeifen drang aus seiner Kehle, er bellte wie beim Keuchhusten, kämpfte darum, die wieder funktionierenden Lungen aufzupumpen.
Wenn ich jetzt zurückdenke, konnte er nicht sehr lange ohne Bewußtsein unter Wasser gelegen haben, aber damals kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Er öffnete die Augen, hustete und fing an zu stöhnen, was immerhin ein Zeichen der Besserung war, und ich sah mich um, wie wir am besten aus dieser Falle herauskamen, die allmählich ungastlich wie eine Gefängniszelle wurde.
Eine andere Tür, hatte Harry gesagt, in Richtung Fluß: Tatsächlich, als ich dorthin schaute, konnte ich sie erkennen, eine einst bemalte Holzplatte, eingefügt in die Backsteinwand. Ihre untere Kante befand sich knapp fünfzehn Zentimeter über der Wasseroberfläche.
Quer über die Längsseite des Gebäudes erstreckte sich von der Decke bis in den Fluß hinein ein Vorhang aus Maschendraht, wie überdimensionaler Hühnerdraht, vermutlich zu dem Zweck angebracht, Diebe von den Booten im Dock fernzuhalten. Dahinter wälzte sich der eigentliche Fluß vorbei, mit kleinen Strudeln, die auf der Oberfläche bis durch das Drahtgitter hereinkreiselten.
Das Dock selbst, soviel war mir klar, lag wegen des Hochwassers tiefer als sonst. Trotzdem war die Tür immer noch fünfzehn Zentimeter über dem Wasser… es ergab keinen Sinn, eine Tür so hoch anzubringen. es sei denn, es gab irgendwo ein Podest. ein Podest oder sogar einen Steg zum Be- und Entladen der Boote.
Ich zog Harry vorsichtig mit und bewegte mich nach links, zur Wand hin, und zu meiner großen Erleichterung fand ich dort tatsächlich einen Steg, ungefähr in Hüfthöhe. Ich hob Harry hoch, bis er auf dem Brett saß, schlängelte mich selbst hinauf, so daß wir beide nebeneinander hockten und die Köpfe aus dem Wasser streckten, was zwar nicht nach einem erwähnenswerten Fortschritt klingt, höchstwahrscheinlich aber den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte.
Harry war halb bewußtlos, verwirrt und blutete zudem. Das einzig Gute bei der extremen Kälte des Wassers war, dachte ich, daß der Blutverlust reduziert wurde, egal was für eine Verletzung er sich zugezogen haben mochte. Abgesehen davon mußten wir so schnell wie möglich aus dem Wasser herauskommen.
Das Loch, durch das Harry gestürzt war, befand sich in der Mitte der Decke. Wenn ich mich auf den Steg stellte, konnte ich mich wohl bis zur Decke strecken, aber das Loch war zu weit weg. Wenn ich hochsprang, dachte ich, würde ich noch mehr Stücke aus dem Holzfußboden herausreißen. Es sah nicht sehr vielversprechend aus. Anscheinend fehlte an der Stelle ein Stück vom Querbalken; zweifellos verrottet.
Inzwischen mußte ich dafür sorgen, daß Harry nicht vornüber fiel und doch noch ertrank. Um das zu verhindern schaffte ich ihn in die Ecke und lehnte ihn dort gegen die Wand. Ich zog ihn vorsichtig auf dem Steg entlang, der, wie ich herausfand, aus Holzplanken gezimmert war, aus denen in regelmäßigen Abständen Stützbalken herausragten, über die ich Harrys Beine heben mußte, immer eins nach dem anderen. Trotzdem erreichten wir nach einer Weile das Ende des Stegs. Ich stellte mich auf und zog ihn nach hinten, bis er dort in der Ecke saß, eingekeilt zwischen die Seitenwand und die Rückwand.
Er hatte zu husten aufgehört, sah aber immer noch weggetreten aus. Der Blutstreifen kam von seinem Bein, das er jetzt waagrecht von sich streckte. Trotzdem war wegen der undurchsichtigen Brühe nichts zu erkennen. Ich überlegte mir, ob ich zuerst die Blutung stillen oder ihn in dieser unsicheren Stellung sitzen lassen sollte, um einen Ausgang zu suchen im Vertrauen darauf, daß er nicht wieder das Bewußtsein verlor; da hörte ich plötzlich das Knarren der
Eingangstür über uns, von wo aus auch Harry und ich den Schuppen betreten hatten.
Mein erster natürlicher Impuls war, um Hilfe zu rufen, wer auch immer dort oben angekommen war; doch zwischen der Absicht und dem Schrei schoß mir plötzlich eine Flut von Gedanken durch den Kopf, die mich mit bereits offenem Mund verstummen ließ. Ich war nicht mehr so sicher, ob dieser Entschluß ratsam sei. Folgendes ging mir durch den Kopf: Harry war hierher gekommen, um jemanden zu treffen. Wen, das wußte ich nicht. Man hatte ihm einen Treffpunkt genannt, den er gut kannte. Er war ohne Argwohn hergekommen. Er hatte das Bootshaus betreten und versucht, einen Umschlag vom Fußboden aufzuheben, dann hatte der Boden unter ihm nachgegeben, ein Stück vom Querbalken fehlte, und wäre ich nicht dabeigewesen, wäre er mit Sicherheit im Dock ertrunken, aufgespießt auf etwas, das unter der Wasseroberfläche gelauert hatte.
Einen Teil meiner späteren Ausbildung hatte ich bei einem ehemaligen SAS-Trainer absolviert, dessen erste Überlebensregel darin bestand, dem Feind aus dem Weg zu gehen. Ich war mir zwar nicht absolut sicher, jedoch der Gefahr sehr bewußt, daß über uns nicht ein Retter, sondern vielmehr ein Feind eingetroffen war. Ich wartete, daß von oben Schreie des Entsetzens kamen, daß jemand besorgt Harrys Namen rief, auf irgendeine natürliche, unschuldige Reaktion auf den durchgebrochenen Fußboden.
Statt dessen herrschte Stille. Dann das Knarren einer oder zweier Stufen und das Geräusch der Tür, die leise wieder zugemacht wurde.