Gespenstisch.
Sämtliche Geräusche von draußen wurden dadurch gedämpft, daß das Dock teilweise tiefer lag und in die Uferböschung gebaut war, doch nach einer Weile hörte ich, wie eine Autotür zuschlug, der Motor angelassen wurde und ein Wagen davonfuhr.
Harry sagte plötzlich:»Verfluchte Scheiße. «Die Worte klangen wie Musik. Dann sagte er:»Was zum Teufel ist eigentlich los?«und dann:»Herrgott, tut mir mein Bein weh!«
«Die Fußbodenbretter sind durchgebrochen. Sie sind auf etwas gefallen, das Ihr Bein durchbohrt hat.«
«Mir ist k. kalt.«
«Ja, ich weiß. Sind Sie wach genug, um hier einen Augenblick allein sitzen zu bleiben?«
«John, um Himmels willen.«
«Nicht lange«, fügte ich eilig hinzu.»Ich lasse Sie nicht lange allein.«
Als ich mich auf dem Steg aufgerichtet hatte, reichte mir das Wasser bis über die Knie. Ich watete an der Wand entlang in Richtung Fluß und der unteren Tür. Tatsächlich gab es an der Tür drei Stufen und direkt unter der Tür eine kleine Anlegestelle. Ich ging die Stufen hinauf, bis mir das Wasser gerade noch an die Knöchel reichte, und drückte die Türklinke herunter.
Diesmal war es schwieriger mit dem Ausgang: Die Tür war bombenfest zu. An der Wand neben der Tür befanden sich drei elektrische Schalter nebeneinander. Ich drückte sie alle, doch keine der Glühbirnen an der Decke reagierte darauf. Dort war auch ein Schalterkasten, von dem aus Kabel zu dem Metallgitter führten; ich öffnete den Kasten und drückte auf den roten und dann auf den grünen Knopf, die sich darin verbargen, doch wieder rührte sich nichts im Bootshaus.
Der Mechanismus zum Heraufziehen des Gitters war eine Konstruktion von Zahnrädern, die an einem Seil zogen, welches den Metallzaun wie einen Rolladen aufwickelte. Die Ränder des Gitters liefen in Führungsschienen, damit es ordentlich aufgerollt wurde. Ohne Strom war da nichts zu machen. Andererseits mußte diese ganze Sperre, so wie sie konstruiert war, vom Gewicht her relativ leicht sein.
«Harry?«rief ich.
«O Gott, John…«Seine Stimme klang schwach und angestrengt.
«Bleiben Sie ruhig sitzen. Und keine Angst: Ich komme zurück.«
«Wo… wo wollen Sie hin?«Ich vernahm eine Spur von Angst in seiner Stimme, aber auch seinen festen Willen.
«Raus.«
«Schön… beeilen Sie sich.«
«Ja.«
Ich ließ mich wieder ins Wasser gleiten und machte ein paar Schwimmstöße auf das Rollentor zu. Ich versuchte, mich hinzustellen, doch das Wasser war dort wesentlich tiefer. Ich klammerte mich an das Gitter und spürte, wie die Strudel des Flusses an mir zupften.
Wenn ich Glück hatte, wenn ich sehr viel Glück hatte, reichte das Gitter nicht bis ganz auf den Flußgrund hinab. Es gab keinen vernünftigen Grund, weshalb es weiter als bis zur Strömung hinunterreichen sollte, und das würde heißen, daß da eine Lücke von mindestens fünfzig bis sechzig Zentimetern sein mußte. Vom Gewicht aus betrachtet, war ein Spalt einfach logisch.
Kein Problem.
Ich atmete tief ein und hangelte mich langsam am Gitter nach unten, wobei ich mit den Füßen den Grund zu ertasten versuchte; es war tatsächlich ein Spalt zwischen der Unterkante des Rollgitters und dem schlammigen Boden, aber nicht weiter als ein paar Zentimeter. Außerdem hatte sich dort eine Menge unidentifizierbares Gerümpel angesammelt, das gegen das Hindernis gepreßt wurde und vorbei wollte.
Ich mußte Luft holen.
«Harry?«
«Ja.«
«Unter dem Metallzaun ist eine Lücke. Ich tauche drunter durch und hole Sie dann gleich raus.«
«In Ordnung «Er hatte sich wieder besser im Griff und nicht mehr soviel Angst.
Tief Luft holen. Untertauchen, nach unten ziehen. Ich erreichte das Ende des Gitters, spürte den Schlamm darunter. Die Unterkante des Rollos schloß nicht mit einer geraden Querleiste ab, sondern bestand aus einzelnen Gelenken. Diese Kettenglieder konnte man anheben, aber nur einzeln, nicht alle auf einmal.
Unten durch, befahl ich mir. Die Versuchung, unbeschadet wieder dorthin zurückzukehren, von wo ich gekommen war, war enorm. Unten durch…
Ich ließ mich flach auf den Boden gleiten, entschied mich dafür, mit dem Kopf zuerst und dem Gesicht nach oben durchzuschlüpfen, krümmte den Rücken in das schlammige Flußbett, betete… betete, daß die freistehenden Gelenke sich nicht in meinen Kleidern verhedderten… in meinem Strickpullover… ich hätte mich ausziehen sollen. Kopf drunter. Metall auf meinem Gesicht. die Gelenke mit den Händen hochdrücken… mit aller Kraft… aufpassen… nicht hasten… nicht hängenbleiben… mach dich von dem Gerümpel rings um dich her frei… außen am Gitter festhalten… nicht loslassen, die Strömung des Flusses ist beträchtlich… ziehen… ganz gerade bleiben… weiter so… Schulter durch, Zaungelenke hochdrücken, Rücken durch, Hintern durch, Beine. Gelenke hochdrücken… Atem wird knapp… Lungen schmerzen. vorsichtig, vorsichtig. was wirbelt da um meine Knöchel… hat sich verheddert… ich muß bald Luft holen… Füße hängen fest… Füße… durch.
Sofort zog es meine Beine zum Fluß hin, als wollte er sie an sich reißen, und ich mußte mich mit aller Kraft am Gitter festhalten, um nicht von der Strömung fortgerissen zu werden. Aber ich war durch, hatte mich nicht in diesen fürchterlichen Metallklauen verfangen, war ungehindert durch das Gerümpel gekommen und nicht ohne jede Hoffnung auf Rettung ertrunken.
Ich kam nach oben und sog die Luft tief in mich hinein, schnaufend, die schmerzenden Lungen schwollen an, ich verspürte einen Anfall unterdrückten Schreckens, klammerte mich schlotternd an das Gitter.
«Harry?«rief ich.
Das Dock auf der anderen Seite des Rollgitters war dunkel; ich konnte ihn zwar nicht sehen, er mich aber um so besser.
«Oh, John…«Seine Erleichterung kannte keine Grenzen.
«Gott sei Dank.«
«Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte ich, und bemerkte die Überanstrengung auch in meiner eigenen Stimme.
Ich hangelte mich am Gitter entlang, stromaufwärts auf die verschlossene Tür zu, und indem ich mich nach und nach an den Metallgliedern nach oben zog, gelang es mir, mich um die Ecke des Bootshauses herumzuschlängeln, aus dem Wasser herauszukommen und mich endlich auf das grasbewachsene Ufer zu rollen. Mir war bitterkalt, ich zitterte aus verschiedenen Gründen am ganzen Körper, aber ich war draußen.
Als ich aufstand, fühlten sich meine Knie an, als wollten sie einknicken; ich versuchte, die Tür zum Dock aufzumachen, doch sie bot von außen genausoviel Widerstand wie von innen. Sie hatte ein Steckschloß, ein simples Schlüsselloch, aber keinen Schlüssel.
Ich dachte mir, vielleicht sei es das beste, ein Telefon zu suchen und professionelle Hilfe anzufordern: die Feuerwehr und einen Rettungswagen. Wenn ich in Sams großer Werkstatt kein Telefon fand, müßte ich mit Harrys Wagen zum nächsten Anwesen fahren.
Die Sache hatte nur einen Haken: Harrys Wagen war nicht mehr da.
Mein Gehirn fing wieder an, die >Scheiße<-Platte abzuspielen.
Bevor ich irgend etwas unternahm, fiel mir ein, mußte ich meine Stiefel anziehen. Ich betrat das Bootshaus durch die obere, die vordere Tür.
Noch ein Haken: keine Stiefel. Auch kein Anorak.
Von unten kam Harrys Stimme, weit weg und schwankend:
«Ist dort oben jemand?«
«Ich bin’s, John«, rief ich.»Halten Sie durch.«
Keine Antwort. Vielleicht ist er wieder schwächer geworden. Ich mußte mich beeilen.
Es gab keinen Zweifel mehr daran, daß jemand die Absicht gehabt hatte, ihn zu ermorden, und diese Gewißheit machte mich auf perverse Art wütend, erweckte neue Kräfte und eine gehörige Portion Kaltblütigkeit. Ich rannte auf bloßen Füßen über den steinigen Weg zu Sams Werkstatt; es machte mir nichts aus. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, daß ich einfach hineingehen konnte — an der Tür befand sich kein Schloß. Der Innenraum ähnelte nicht minder einer Müllkippe als der Hof draußen. Ich blickte mich kurz um und sah, daß die Mitte des Raumes von einem großen Boot auf Stützpfeilern eingenommen wurde. Die Aufbauten waren mit einer dünnen Plastikplane abgedeckt.