Ich schaute mich rasch nach einem Telefon um, konnte jedoch keines finden. Es gab kein Büro, keinen abgetrennten oder verschließbaren Raum. Sam mußte wertvolle Werkzeuge besitzen, hatte sie aber offensichtlich gut versteckt.
Überall lagen alte und verrostete Werkzeuge und Materialien herum, doch in all dem Müll entdeckte ich beinahe sofort zwei perfekte Hilfsmitteclass="underline" ein Montiereisen und einen schweren Holzhammer zum Einschlagen von Pfosten zum Vertäuen.
Damit eilte ich zum Bootshaus zurück und bearbeitete die untere Tür, indem ich zuerst das Montiereisen in einen nichtexistenten Spalt zwischen dem hölzernen Türrahmen und dem Mauerwerk hämmerte, etwas unterhalb des Schlüssellochs. Dann drosch ich auf das Eisen ein, um die Hebelwirkung voll auf den Türrahmen einwirken zu lassen, wand das Eisen wieder heraus und wiederholte den Vorgang oberhalb des Schlosses, diesmal mit ungebremster Wut.
Das alte Holz des Rahmens leistete keinen Widerstand mehr und splitterte, gab den Riegel des Schlosses frei, und ohne weitere Schwierigkeiten riß ich die Tür weit auf. Ich warf das Montiereisen und den Hammer ins Gras und ging die Stufen hinunter ins Bootshaus, wobei mich die beißende Kälte des Wassers dazu zwang, die Zähne aufeinanderzubeißen.
Wenigstens ist es nicht windig, dachte ich. Kein nennenswerter Eiswind, der uns garantiert den Rest gegeben hätte.
Ich watete an der Wand entlang zu Harry, der in der Ek-ke zusammengesunken war; sein Kopf hing knapp über der Wasseroberfläche.
«Komm schon«, sagte ich drängend.»Harry, wach auf!«
Er blickte apathisch zu mir auf, durch einen Schleier aus Schwäche und Schmerz, und man konnte sehen, daß er schon viel zu lange im Wasser gelegen hatte. Apathie war nicht minder tödlich als Kälte. Ich beugte mich hinunter und drehte ihn mit dem Rücken zu mir, schob meine Hände unter seine Arme und zog ihn durch das Wasser bis zu den Stufen; von dort mußte ich ihn noch hinauf und nach draußen aufs Gras ziehen.
«Mein Bein«, stöhnte er.
«Mein Gott, Harry, was wiegen Sie eigentlich?«fragte ich keuchend.
«Wüßte nicht, was Sie das angeht«, murmelte er.
Ich lachte erleichtert auf. Wenn er trotz aller Schmerzen so antworten konnte, dann saß er dem Tod noch nicht auf der Schippe. Mir gab es genug Ansporn, uns beide hinauszubugsieren, obwohl ich nicht behaupten würde, daß es ihm draußen auf dem Trockenen auch nur unwesentlich wärmer war — ebensowenig wie mir.
Sein Bein schien nicht mehr zu bluten, jedenfalls nicht mehr stark; demnach war keine Arterie getroffen, sonst wäre er in der Zwischenzeit schon verblutet. Ungeachtet dessen mußte er unter seinem Hosenbein eine beträchtliche Wunde haben, und je schneller ich ihn zu einem Arzt brachte, um so besser.
Soweit ich mich erinnern konnte, waren in der Nähe der schmalen Straße, an deren Ende die Werft lag, keine Häuser zu sehen gewesen: ich müßte in meinen Socken ganz schön durch die Gegend rennen, bis ich Hilfe finden würde.
Andererseits sah ich nur wenige Meter entfernt ein Ruderboot mit dem Kiel nach oben inmitten der allgemeinen Verwahrlosung liegen. Ein kleines Boot. Etwa einsachtzig vom Bug zum Kiel. Ein Einmannboot, groß genug für zwei. Wenn es nur nicht voller Löcher war…
Ich ließ Harry kurz liegen, ging zu der Jolle und drehte sie um.
Abgesehen davon, daß sie einen neuen Anstrich und ein bißchen liebevolle Fürsorge benötigte, war sie anscheinend voll seetüchtig; natürlich fehlten die Ruderdollen und die Ruder.
Egal. Irgendein Stück Holz mußte genügen. Lag ja genug herum. Ich suchte mir eine geeignete Latte aus und legte sie ins Boot.
Am Bug der Jolle war eine kurze Schnur befestigt: eine Fangleine.
«Harry, können Sie auf einem Bein hüpfen?«fragte ich ihn.
«Weiß nicht.«
«Kommen Sie. Versuchen Sie’s. Wir müssen Sie ins Boot kriegen.«
«Ins Boot?«
«Ja. Jemand hat Ihr Auto geklaut.«
Er sah verdutzt aus. Doch schließlich mußte ihm der gesamte Nachmittag so unwirklich vorgekommen sein, daß es jetzt wohl dazu paßte, wenn er in ein Boot hüpfen sollte. Jedenfalls deutete er kraftlos an, ich solle ihm aufhelfen, damit er sich auf seinen linken Fuß stellen konnte, und mit meiner tatkräftigen Unterstützung schaffte er die paar Hopser zum Boot, obwohl ich bemerkte, daß es ihm unheimlich weh tat. Ich half ihm, sich auf die einzige Planke in der Mitte niederzusetzen, und legte ihm die Beine so bequem wie möglich. Harry fluchte und jaulte bei der kleinsten Bewegung.
«Halten Sie sich gut an den Seiten fest«, sagte ich.»Alles klar?«
«Ja.«
Da er keine Anstalten machte, nahm ich ihn bei den Händen und packte sie auf die Bootsränder.
«Festhalten«, sagte ich grimmig.
«Gut. «Seine Stimme war schwach, doch die Hände klammerten sich fest.
Ich schob und zerrte die Jolle, bis sie rückwärts die Uferböschung hinabrutschte, packte dann die Fangleine und stemmte die Fersen in die Erde, um einen zu steilen und raschen Stapellauf zu verhindern. In letzter Sekunde, als das Heck in den angeschwollenen Fluß tauchte und die Jolle sich waagrecht legte, sprang ich hinein und hoffte entgegen aller Vernunft, daß wir nicht auf der Stelle untergingen.
Wir gingen nicht unter. Die Strömung erfaßte die Jolle sofort und zog sie mit sich flußabwärts; ich quetschte mich an Harry vorbei ins schmale Heck des Bootes und hob das Stück Holz vom Boden auf.
«Was ist das?«fragte Harry schwach. Jetzt verstand er überhaupt nichts mehr.
«Ein Ruder.«
«Aha.«
Ich legte meinen linken Arm angewinkelt auf den hinteren Rand des Bootes und legte die Holzstange darüber; das kürzere Ende nahm ich in die rechte Hand, das längere tauchte ich ins Wasser. Damit konnte man zwar nur sehr eingeschränkt steuern, doch es genügte, um uns mit dem Bug voran flußabwärts zu bringen.
Immer flußabwärts geben, dort wohnen die Menschen… Vertraute Fetzen aus meinen Reiseführern kamen mir in den Sinn. Einige von ihren Fallen sind abscheulich.
Einige Fallen waren so konstruiert, daß das Opfer auf scheinbar festem Untergrund einbricht und sich in einer darunterliegenden Grube auf angespitzten Pfählen aufspießt.
Alle hatten die Reiseführer gelesen.
«John?«fragte Harry.»Wohin fahren wir?«
«Maidenhead, wer weiß. Ich bin mir nicht ganz sicher.«
«Mir ist verflucht kalt.«
Im Boot war jetzt ein bißchen Wasser, das um unsere Füße schwappte.
Scheiße.
Keine Stelle an der Themse war weit von der Zivilisation entfernt. Nicht einmal Sams Werft. Der breite Fluß verengte sich unerwartet, und zu unserer Linken kam ein Schild mit der Aufschrift GEFAHR vorbei; ein kleinerer Hinweis besagte SCHLEUSE, mit einem Pfeil nach rechts.
Ich steuerte die Jolle mit Macht nach rechts. GEFAHR führte zu einem Wehr. Eine Schleuse war genau richtig. Keine Schleuse ohne Schleusenwärter.
Mit einem Mal wurde mir bewußt, daß es auf dem ganzen Fluß keine anderen Boote gab, und mir fiel ein, daß solche Schleusen im Winter oft wegen Instandsetzungsarbeiten dichtgemacht wurden. Vielleicht war der Schleusenwärter gerade zum Einkaufen gefahren.
Auch egal. Auf dem rechten Ufer waren Häuser zu sehen.
Es stellte sich schnell heraus, daß es Sommerhäuschen waren, um diese Jahreszeit unbewohnt.
Wir trieben weiter wie in einem nichtendenwollenden
Alptraum. Das Wasser zu unseren Füßen stieg immer höher.