Start gehen zu dürfen; egal welcher Start, egal wo. Ich mußte mir eingestehen, daß ich Sam und Nolan beneidete.
Bob zog mit seinem Pferd Kreise und wartete auf mich. Sowohl sein Tier als auch Fringe spürten, daß es ans Springen ging, und sie waren begierig darauf.
«Der Boss meint, Sie sollen auf der Spur reiten, die am nächsten an ihm dran ist«, sagte Bob knapp,»damit er sieht, was Sie anstellen.«
Ich nickte; mein Mund war etwas trocken. Bob trottete mit seinem Gaul fachmännisch in Position, fragte mich mit hochgezogener Augenbraue, ob ich soweit wäre, und startete per Fersendruck in einen schneller werdenden Galopp. Fringe war schon aus Gewohnheit und Ehrgeiz sofort neben ihm, ein sportliches Verhalten, das ihm anerzogen worden war und das er sichtlich genoß.
Vor uns die erste Hürde. Entfernung einschätzen. Fringe mitteilen, daß er kürzer ausschreiten solle. Die Botschaft kam zu erfolgreich an, er legte einen schnellen Schritt dazwischen, kam zu nahe an das Hindernis heran, setzte beinahe aus dem Stand darüber hinweg und fiel um Längen hinter Bob zurück.
Verdammt, dachte ich, verdammt.
Zweite Hürde, hat schon besser geklappt, ich gab ihm das Signal drei Schrittlängen vor dem Sprung, spürte, wie er zum richtigen Zeitpunkt abhob, spürte, wie seine Selbstsicherheit und sein Vertrauen in mich zurückkam, wenn auch nur vorübergehend.
Drittes Hindernis, ich überließ ihm zuviel Entscheidungsspielraum, weil die Entfernung so ungünstig war. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob er kürzer oder weiter ausholen sollte, was zur Folge hatte, daß er sich auch nicht entscheiden konnte, und so taumelten wir unsauber drüber weg, seine Hufe knallten gegen den Holzrahmen, mein Gewicht kam viel zu weit nach vorne… eine Katastrophe.
Wir zügelten die Pferde am Ende der Trainingsbahn und trotteten zurück zu Tremayne, der uns mit seinem Fernglas erwartete. Ich traute mich nicht, Bob anzuschauen, wollte seine Mißbilligung nicht sehen, ich wußte selbst zu gut, daß ich keine Meisterleistung dargeboten hatte.
Tremayne hatte die Lippen geschürzt, äußerte sich jedoch nicht direkt. Statt dessen sagte er:»Zweiter Durchgang, Bob. Los. «Ich kapierte, daß wir zurückkehren und noch einmal von vorne anfangen sollten.
Anscheinend hatte ich beim zweiten Mal mehr Zeit, um alles auf die Reihe zu kriegen, und Fringe blieb ziemlich flott bis zum Schluß mit Bob auf einer Höhe. Ich war begeistert und fühlte mich erleichtert und wieder ich selbst, doch ich hatte an einem der Morgen Sam Yaeger beim Training zugesehen — der Unterschied war mir durchaus bewußt.
Tremayne äußerte sich erst, als wir zu den Ställen zurückfuhren, und auch da fragte er nur, ob ich mit meinen Leistungen zufrieden sei. Auf die eine Art gesehen, war ich überglücklich, dachte ich, anders betrachtet wiederum nicht. Ich wußte genau, daß ich Rennen reiten wollte, wußte, daß ich grundsätzlich Talent hatte.
«Ich werde es lernen«, sagte ich grimmig. Er antwortete nicht.
Doch als wir im Haus angekommen waren, kramte er eine Zeitlang im Büro herum, beschwerte sich darüber, daß er an Dee-Dees freiem Tag nichts mehr finden könne, und kam schließlich mit einem Zettel in den Eßraum, knallte ihn auf den Tisch und forderte mich auf, ihn zu unterschreiben.
Wie ich gleich darauf feststellte, handelte es sich um einen Antrag für die Zulassung als Amateurjockey. Ich unterschrieb wortlos, freute mich unglaublich und grinste wie ein Schwachsinniger.
Tremayne grunzte und brachte das Dokument wieder weg. Kurz darauf kam er zurück und sagte, ich solle die Arbeit liegen lassen und, falls es mir nichts ausmache, mit ihm zur Rennbahn nach Newbury fahren. Mackie würde ebenfalls mitkommen und Fiona auch.
Dann kam er zum Kern der Sache:»Offen gesagt, die beiden wollen nicht ohne Sie mitkommen, und Harry möchte, daß Sie dabei sind und… nun… ich auch.«
«In Ordnung«, sagte ich.
Er machte sich wieder davon, und nachdem ich kurz überlegt hatte, ging ich ins Büro, um Doone auf dem Polizeirevier anzurufen. Mir wurde mitgeteilt, er sei momentan nicht im Dienst, ich könne aber eine Nachricht und meinen Namen hinterlassen.
Ich hinterließ meinen Namen.
«Fragen Sie ihn«, sagte ich,»warum die Bretter im Bootshaus nicht an der Oberfläche schwimmen.«
«Äh… würden Sie das bitte wiederholen, Sir?«
Ich wiederholte es, und man las es mir noch einmal skeptisch vor.
«Das ist richtig«, bestätigte ich amüsiert.»Vergessen Sie es nicht.«
Wir fuhren zum Rennplatz und sahen, wie Nolan auf Fionas Pferd Groundsel um eine Länge auf den zweiten Platz verwiesen wurde, und wir schauten zu, wie Sam zwei von Tremaynes Pferden ohne zu gewinnen ins Ziel brachte und anschließend für einen anderen Trainer gewann.
«Kein Tag ist wie der andere«, sagte Tremayne philosophisch.
Auf dem Weg zum Rennplatz hatte uns Fiona erzählt, daß die Polizei angerufen habe, um ihnen mitzuteilen, sie hätten Harrys Wagen am Bahnhof von Reading gefunden.
«Sie meinten, er sieht unbeschädigt aus, aber sie haben ihn in eine Garage abgeschleppt, um eventuelle Spuren zu sichern. Ich wußte nicht, daß man wirklich > Spuren si-chern< sagt, aber so haben sie sich ausgedrückt.«
«Sie reden wie ihre Notizbücher«, nickte Tremayne.
Vom Bahnhof in Reading konnte man in die weite Welt fahren. Metaphorische Klippe, dachte ich. Also war ein belastendes Verschwinden das geplante Szenario gewesen und nicht mutmaßlicher Selbstmord. Es sei denn, man hatte den Wagen nach Harrys unvorhergesehener Wiederauferstehung ein zweites Mal umgestellt.
Natürlich kursierten auf dem Rennplatz die wildesten Gerüchte von der Schlägerei auf Tremaynes Dinner, die meisten Versionen waren durch das Ausschmücken der Presse schamlos übertrieben oder einfach unzutreffend. Tremayne ertrug die Witze mit der angebrachten Standfestigkeit und freute sich mehr darüber, daß von Seiten des Jockey Clubs Bemerkungen oder gar Nachfragen ausblieben. Noch nicht einmal ein Tadel von der Sorte >so etwas diskreditiert den gesamten Rennsports der als Meßlatte für die inoffizielle Rüge galt, wie ich inzwischen wußte, war zu vernehmen.
Durch osmotische Informationsübertragung wußten sowohl Sam als auch Nolan von meinem Training mit Fringe. Sam sagte:
«Demnächst werden Sie mir meinen verfluchten Job wegnehmen«, allerdings rein im Spaß, und Nolan, der fluchte und mich böse anfunkelte, sah Tremaynes warnenden Blick und flüchtete sich in schwärenden Groll.
«Sam hat Bob angerufen, um sich zu informieren«, sagte Tremayne hinterher.»Bob hat ihm erzählt, daß Sie sich ganz gut angestellt haben. Sam konnte es nicht erwarten, es Nolan mitzuteilen. Ich habe es selbst gehört. Das sind vielleicht ein paar Idioten.«
Den gesamten Nachmittag über hielt sich Fiona dicht an meiner Seite und drehte sich ängstlich nach mir um, wenn ich mal einen Schritt zurückblieb. Sie versuchte erfolglos, vor mir zu verheimlichen, was sie selbst mit» lächerliche Angst «bezeichnete, und mir war klar, daß ihre Angst auf nichts Bestimmtes gerichtet war und über keine Logik verfügte, sondern zu einer Geistesverfassung wurde. Auch Tremayne, der es ebenfalls bemerkt hatte, kümmerte sich noch mehr als sonst um sie, und Fiona selbst unternahm sichtliche Anstrengungen, sich normal zu verhalten oder, wie sie es nannte,»vernünftig zu sein«.
Wenn Mackie nicht gerade Tremayne zur Hand gehen mußte, blieb sie nahe bei Fiona, und obwohl ich mir alle Mühe gab, wollte es mir nicht gelingen, die unterschwellige Furcht aus ihren Blicken zu vertreiben. Die Silberblonde und der Rotschopf klebten gelegentlich aneinander wie langjährige Freundinnen und unterhielten sich mit Nolan, dem Cousin der einen und dem Ex-Verlobten der anderen, mit einer Mischung aus Schrecken, Entrüstung und Mitleid.
Nolan war darüber verstimmt, daß er auf Groundsel verloren hatte, obwohl mir nicht aufgefallen war, daß er etwas falsch gemacht hätte. Tremayne tadelte ihn nicht und Fiona schon gar nicht, aber der Mißerfolg verstärkte seinen Unmut gegen mich, soweit das noch möglich war. Ich war selbst nicht sehr angetan davon, mir ohne es zu wollen einen so gewalttätigen Feind eingehandelt zu haben, und sah keinen anderen Ausweg als absolute Zurückhaltung. Das dumme daran war nur, daß ich seit dem Training am