Morgen nicht mehr die geringste Neigung zur Zurückhaltung verspürte.
Immer wieder schaute ich mit innerer Freude auf den Morgen zurück; auf Ronnies Anruf, die Offenbarung auf der Hürdenstrecke. Überall öffneten sich Türen. Es ging los.
Gegen Ende des Nachmittags kehrten wir nach Sheller-ton House zurück, wo Perkin auf einen Drink herüberkam, Tremayne noch einmal nach den Pferden sah und Gareth nach seinem Fußballspiel nach Hause kam. Ein Abend wie so viele andere in diesem Haus, für mich jedoch der erste in einem neuen Leben.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, mußte ich mein Versprechen einlösen und Gareth und Coconut zu einem zweiten Abenteuerausflug mitnehmen.
Das Wetter war wesentlich besser; sonnig, aber immer noch kalt und ein bißchen windig, ein guter Tag zum Marschieren. Mein Vorschlag lautete: zwölf Kilometer hin und zwölf Kilometer zurück. Gareth, von Panik ergriffen, schlug drei Kilometer vor. Wir einigten uns darauf, den Landrover mitzunehmen und dann so lange zu gehen, wie der Enthusiasmus der beiden Jungs anhielt.
«Wo geht ihr hin?«erkundigte sich Tremayne.
«Die Straße entlang, über die Hügel, Richtung Reading«, sagte ich.»Dort gibt es hervorragende Waldgebiete, nicht eingezäunt und ohne Verbotsschilder.«
Tremayne nickte.»Ich kenne die Stelle. Das gehört alles zum Quillersedge-Gebiet. Sie versuchen nur, die Leute vor Weihnachten draußen zu halten, damit sie keine Fichten klauen.«
«Wir zünden dort lieber kein Feuer an«, sagte ich,»deshalb nehmen wir uns Essen und Wasser mit.«
Gareth sah erleichtert aus.»Keine gebratenen Würmer.«
«Nein, aber trotzdem Überlebensnahrung. Sachen, die man sammeln oder fangen kann.«
«Na schön«, stimmte er zu, pragmatisch wie der Vater.»Wie wär’s mit Schokolade anstelle von Löwenzahnblättern?«
Ich war mit Schokolade einverstanden. Der Tag sollte erträglich bleiben. Um zehn Uhr machten wir uns auf den Weg, holten Coconut ab und brummten Richtung Wald.
Überall entlang der Straße gab es Parkplätze; nicht die dafür vorgesehenen offiziellen, geteerten Stellen, sondern kleine Ausbuchtungen aus festgedrückter Erde, erzeugt von den Autos der zahlreichen Spaziergänger. Ich stellte den Wagen auf einer davon ab, zog die Handbremse und verschloß die Türen, nachdem die Jungs draußen waren.
Gareth trug natürlich seine psychedelische Jacke. Coconut hatte sein gelbes Ölzeug mit einem ebenso augenschädlichen Anorak vertauscht, und ich, in bedauernswerter Ermangelung meiner Skijacke, paßte mich mit meinen stonewashed Jeans und einer weiten olivgrünen Jacke, die ich von Tremayne geborgt hatte, unauffällig in die Landschaft ein.
«Also gut«, sagte ich und mußte lächeln, als sie die Riemen ihrer hellblauen Nylonrucksäcke über die Schultern streiften,»wir machen einen Spaziergang in die Wildnis der Berkshires. Seid ihr fit?«
Sie bejahten das, und so betraten wir ohne Umwege das labyrinthische Gewirr von Erlen, Haselsträuchern, Birken, Eichen, Kiefern, Fichten und Lorbeergestrüpp und suchten uns einen Weg auf dürrem Gras, durch kratzige Dornenranken und zwischen den blattlosen, kniehohen Sprößlin-gen der nächsten Baumgeneration. Nirgendwo war etwas gerodet oder aufgeforstet; es war ein unwegsamer Urwald, wie ihn die Natur geschaffen hatte, genau das Richtige für die Jungs.
Ich ermunterte sie, vorauszugehen, achtete jedoch darauf, daß sie in Richtung Sonne marschierten, indem ich kleine Umwege um undurchdringliche Flecken vorschlug, und ich nannte ihnen die Namen der Bäume, um die Expedition interessanter zu gestalten.
«Wir essen doch nicht schon wieder Rinde, oder?«fragte Coconut, nachdem er» Bäh «zu einer Birke gesagt hatte.
«Heute nicht. Dort ist ein Haselstrauch. Eventuell liegen ringsumher noch ein paar Nüsse.«
Sie fanden ganze zwei. Die Eichhörnchen waren schneller gewesen.
Wir gingen einen guten Kilometer, bevor sie der Anstrengungen müde wurden, und ich wollte ohnehin nicht viel weiter gehen, denn laut der Landkarte in meiner Tasche befanden wir uns ungefähr in der Mitte des westlichen Ausläufers des Waldes von Quillersedge. Wir waren bisher immer wieder bergauf und bergab gewandert, doch in nicht mehr allzu großer Entfernung — laut Höhenlinien auf der Karte — ging es jäh und steil nach unten, was aus dem Rückweg einen zu beschwerlichen Aufstieg gemacht hätte.
Gareth blieb auf einer der seltenen kleinen Lichtungen stehen und erwähnte hoffnungsfroh das Thema Essen.
«Klar«, sagte ich.»Wir können uns aus abgebrochenen Zweigen ordentliche Sitze bauen, damit wir nicht mit dem Hintern auf dem feuchten Boden sitzen müssen, wenn ihr wollt. Heute ist es nicht erforderlich, einen Schutz zu basteln.«
Sie bauten kleine Haufen aus Zweigen, legten obendrauf Immergrün, leerten dann die Rucksäcke aus und breiteten das blaue Nylon über das Immergrün. Wir saßen ziemlich bequem und verzehrten die Sachen, die ich zu dem Zweck mitgebracht hatte.
«Geräucherte Forelle!«rief Gareth.»Das ist ein Fortschritt im Vergleich zu den Wurzeln.«
«Man kann Forellen fangen und räuchern, wenn man dazu gezwungen ist«, sagte ich.»Am leichtesten lassen sie sich mit einem dreigezackten Speer fangen, aber erzählt das ja keinem Angler.«
«Wie werden sie geräuchert?«
«Man macht ein Feuer mit sehr viel heißer Glut. Dann wird die Glut mit frischen, grünen Blättern zugedeckt: das brennt sehr langsam und entwickelt dicke Rauchschwaden. Man bastelt sich einen geflochtenen Rost, legt den Fisch drauf und hält ihn über das Feuer. Man kann den Fisch auch direkt in den Rauch hängen oder den Fisch mit blättrigen Zweigen bedecken, damit der Rauch drinbleibt. Am besten eignen sich Eiche oder Buche zum Räuchern. Der Geruch des Rauchs zieht in den Fisch hinein, deswegen sollte man nichts nehmen, dessen Geruch man nicht leiden mag. Niemals Stechpalmen oder Eibe nehmen, die sind giftig. Man kann so ziemlich alles räuchern: in Streifen geschnittenes Fleisch, auch Hühnerstückchen.«
«Geräucherter Lachs!«sagte Coconut.»Warum nicht?«
«Den mußt du erst mal fangen«, kam Gareth’ trockener Kommentar.
Er hatte einen Fotoapparat mitgebracht und knipste alles mögliche: die Sitze, das Essen, uns.
«Ich möchte mich an diese Tage erinnern, wenn ich einmal alt bin, so wie Dad«, sagte Gareth.»Dad wäre froh, wenn er damals eine Kamera gehabt hätte, als er mit seinem Vater um die Welt gereist ist.«
«Wirklich?«fragte ich ihn.
Er nickte.»Er hat es mir gesagt, als er mir die hier geschenkt hat.«
Wir aßen die Forellen mit ungesäuertem Brot und gesundem Appetit und rundeten die Sache mit gemischten Trockenfrüchten und gerösteten Walnüssen und Mandeln ab. Die Jungs deklarierten die Mahlzeit zum Festessen, verglichen mit der am vorangegangenen Sonntag, und verputzten ihre Schokolade als Bonus.
Gareth sagte beiläufig:»Wurde Angela Brickell nicht an so einem Ort umgebracht?«
«Tja… ich glaube schon. Aber ungefähr fünf Meilen von hier entfernt«, sagte ich.
«Und es war Sommer«, sinnierte er.»Warm. An den Bäumen hingen Blätter.«
«Mm. «Gute Vorstellungskraft, dachte ich.
«Sie wollte mich küssen«, sagte er und verzog das Gesicht.
Sowohl Coconut als auch ich schauten ihn verdutzt an.
«So häßlich bin ich auch wieder nicht«, sagte er beleidigt.
«Du bist nicht häßlich«, versicherte ich ihm,»aber du bist jung.«
«Sie hat gesagt, ich würde erwachsen werden. «Er sah verlegen aus, genau wie Coconut.