«Wann hat sie das gesagt?«fragte ich sanft.
«In den Osterferien, letztes Jahr. Sie lief immer draußen auf dem Hof herum; hat mich immer angeguckt. Ich erzählte Dad davon, aber er hörte nicht zu. Es war während des Grand National, und er konnte an nichts anderes denken als an Top Spin Lob. «Er schluckte.»Dann ist sie abgehauen, und ich war echt froh. Ich bin schon gar nicht mehr gerne in den Hof gegangen, wenn sie draußen war.«
Er schaute mich furchtsam an.»Ich weiß, es ist falsch, sich über den Tod von jemandem zu freuen.«
«Freust du dich denn darüber?«
Er dachte darüber nach.
«Erleichterung«, sagte er schließlich.»Ich fürchtete mich vor ihr. «Er schämte sich.»Trotzdem mußte ich an sie denken. Ich konnte nichts dagegen tun.«
«Es wird nicht das letzte Mal sein, daß sich jemand für dich interessiert«, sagte ich nüchtern.»Beim nächsten Mal brauchst du keine Schuldgefühle zu haben.«
Leichter gesagt als getan, vermutete ich. Scham und Schuldgefühle peinigen den Unschuldigen mehr als den Verdorbenen.
Nachdem er seine Gefühle in Worte gefaßt hatte, schien Gareth erleichtert zu sein; er und Coconut sprangen auf, rannten herum, versetzten einander angedeutete Boxhiebe, schaukelten an den Ästen und befreiten sich von ihrer Verlegenheit durch lautes Geschrei, unbändige Bewegung und Imponiergehabe. Vermutlich war ich genauso gewesen, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.
«Na denn«, sagte ich, als sie sich schnaufend auf ihre Sitze warfen und ich die Verpackungen unserer Mahlzeit einsammelte (mit denen man ein nettes kleines Feuerchen hätte anzünden können).»Ich welcher Richtung steht der Landrover?«
«Da lang«, sagte Gareth ohne zu zögern und zeigte nach Osten.
«Da lang«, sagte Coconut und zeigte nach Westen.
«Wo ist Norden?«fragte ich.
Instinktiv tippten beide daneben, bekamen es dann aber durch den Stand der Sonne ungefähr heraus; ich zeigte ihnen, wie man eine Uhr als Kompaß benutzt, und Gareth erinnerte sich dunkel daran, daß er das schon einmal gelernt hatte.
«Irgendwie muß man die Zeiger auf die Sonne richten«, grübelte er.
Ich nickte.»Den Stundenzeiger auf die Sonne richten, dann ist zwischen dem Zeiger und zwölf Uhr die NordSüd-Achse.«
«Aber nicht in Australien«, sagte Gareth.
«Wir sind aber nicht in Australien«, erwiderte Coconut. Er schaute auf seine Uhr und blickte sich um.»Dort ist Norden«, sagte er und streckte den Zeigefinger aus.»Aber wo ist der Landrover?«
«Wenn ihr nach Norden geht, kommt ihr wieder an die Straße.«
«Was soll das heißen, >ihr<?«fragte Gareth.»Sie gehen mit. Sie müssen uns den Weg zeigen.«
«Ich habe mir gedacht, es würde euch mehr Spaß machen, den Weg zurück selbst zu finden. Und«, fuhr ich fort, als er gerade widersprechen wollte,»damit ihr nicht verlorengeht: wenn die Sonne verschwindet, könnt ihr die Bäume unterwegs mit Leuchtfarbe kennzeichnen. So seid ihr immer in der Lage, zu mir zurückzufinden.«
«Geil«, sagte er wie verzaubert.
«Was?«fragte Coconut.
Gareth erzählte ihm, wie man zu jedem Ort zurückfinden konnte, indem man den Weg markierte.
«Ich folge euch«, sagte ich,»aber ihr werdet mich nicht sehen. Falls ihr euch wirklich total verlauft, sage ich euch Bescheid. Ansonsten hängt euer Überleben ganz von euch ab.«
«Stark«, strahlte Gareth.
Ich machte den Reißverschluß an meinem Gürtel auf und gab ihm die kleine Farbdose und den abgesägten Pinsel.
«Denkt dran, den Flecken immer so anbringen, daß ihr ihn von beiden Richtungen sehen könnt, vom Hinweg und vom Rückweg aus. Und nie den letzten Klecks aus den Augen verlieren.«
«Okay.«
«Wartet auf mich, wenn ihr die Straße erreicht habt.«
«Ja.«
«Nehmt die Trillerpfeife mit. «Ich zog sie aus der Tasche und reichte sie ihm.»Das ist nur eine Rückversicherung, falls ihr nicht mehr weiter wißt. Wenn es Probleme gibt, pfeifen: dann bin ich sofort da.«
«Es ist doch nur ein guter Kilometer«, protestierte er und wollte die Pfeife nicht annehmen.
«Was soll ich deinem Vater sagen, wenn du mir abhanden kommst?«
Er grinste verständnisvoll, gab nach und steckte die beste aller Versicherungen in die Hosentasche.
«Los, wir gehen den gleichen Weg zurück, auf dem wir hergekommen sind«, schlug Coconut vor.
«Käseleicht«, sagte Gareth zustimmend.
Ich sah ihnen zu, wie sie sich eine ungünstige Stelle aussuchten und das erste Zeichen bedächtig auf den Stamm eines Schößlings malten. Sie hätten womöglich unseren Pfad vom Vormittag gefunden, wenn sie von der Straße aus losgegangen wären, aber eine Spur rückwärts zu verfolgen war unheimlich schwer. Alle identifizierbaren Zeichen auf unserem Weg wiesen in den Wald hinein, nicht heraus.
Sie zogen ihre Uhren zu Rate, bewegten sich in nördlicher Richtung zwischen den Bäumen hindurch und markierten unterwegs recht fleißig. Sie winkten einmal, ich winkte zurück, und eine Zeitlang konnte ich ihre hellen
Jacken in den flirrenden Schatten des Nachmittagslichtes erkennen. Dann, nachdem sie verschwunden waren, folgte ich langsam ihren Markierungen.
Ich konnte mich sehr viel schneller bewegen als sie. Sobald ich sie erblickte, ging ich in die Hocke; auch wenn sie sich ständig umschauten, würden sie mich in dieser Höhe in meinen naturfarbenen Kleidern nicht entdecken.
Außer der Landkarte hatte ich meinen verläßlichen Kompaß mitgebracht, mit dessen Hilfe ich ständig die von den Jungs eingeschlagene Richtung überprüfte. Sie kamen ein wenig nach Nordosten ab, aber nicht so weit, daß sie sich wirklich verlaufen hätten, und nach einer Weile korrigierten sie ihre Richtung mehr nach Norden hin.
Die hell schimmernden Flecken waren leicht zu erkennen, nie weit voneinander entfernt. Gareth hatte schlauerweise durchgehend junge Bäume mit glatter Rinde ausgesucht, und alle Zeichen befanden sich auf gleicher Höhe, ungefähr hüfthoch, wo ihm allem Anschein nach das Pinseln am leichtesten fiel.
Ich hatte die Jungs mit kurzen Unterbrechungen den ganzen Weg über im Blickfeld. Sie unterhielten sich lautstark, als wollten sie die überall lauernden Waldgeister in Schach halten, und ich erinnerte mich an das unheimliche Gefühl, das einen als Jugendlichen befällt, wenn man sich mutterseelenallein im tiefen Wald befindet und auf Gedeih und Verderb übernatürlichen Kräften ausgeliefert ist. Das konnte einen schon bei Tageslicht nervös machen. Im Alter von fünfzehn hatte ich mich nachts einige Male schrecklich gefürchtet.
An diesem Tag, an dem ich den Jungs und ihrer Spur langsam folgte, fühlte ich mich einfach heimisch und von innerem Frieden erfüllt. Ein paar Vögel zwitscherten bereits, und abgesehen von den Stimmen der beiden Wanderer war die Stille so tief und so alt wie das Land. Die Wälder mit ihren träumenden Knospen und Schmetterlingen in ihren Kokons schlummerten geduldig und sanft erschauernd und warteten auf die Regungen des Frühlings. Die Gerüche des Herbstes nach Kompost und Fäulnis hingen im Tau des Winters wie ein Schleier, nur die Tannen und Fichten dufteten aromatisch, als hätte sie jemand herausgeputzt. Kiefernharz gab, wenn man es anzapfte, sammelte und zu Klumpen trocknete, hervorragenden Brennstoff ab.
Die anderthalb Kilometer zogen sich dahin, doch gegen Ende konnte man schon vereinzelte Autos von der Straße her hören, und Gareth und Coconut brachen mit Gejohle durch das letzte Gestrüpp; wie schon in der Woche zuvor, waren sie erleichtert, wieder zurück im Raumzeitalter zu sein.
Ich beeilte mich und trat hinter ihnen aus dem Wald heraus, was Gareth sehr verblüffte.
«Wir dachten, Sie wären kilometerweit zurück«, rief er.
«Ihr habt eine hervorragende Fährte gelegt.«
«Die Farbe ist so gut wie alle. «Er hielt die Dose hoch, um sie mir zu zeigen, da rutschte sie ihm aus den Fingern, und der Rest des Inhalts verteilte sich auf dem Boden.»O je, tut mir leid«, sagte er.»Es war aber nicht mehr viel drin.«