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Das nennt man Delirium, dachte ich.

Auf der Lichtung rührte sich nichts. Ich lag still da. Die Zeit verging.

Nach einer schier unendlich langen Zeit wurde mir allmählich klar, daß ich immer noch atmete, auch wenn es schwerfiel, und daß ich wohl auch nicht akut Gefahr lief, damit auszusetzen. Wie gräßlich, wie geschwächt ich mich auch fühlte, jedenfalls ertrank ich nicht in meinem eigenen Blut. Ich hustete kein Blut. Husten zu müssen war eine grausige Vorstellung bei den Schmerzen in meiner Brust.

Meine Entschlossenheit, was das Abwarten betraf, verflüchtigte sich allmählich. Niemand würde so lange dort stehenbleiben. Niemand würde ewig lange herumstehen, ohne etwas zu unternehmen. Er hatte meinen Puls nicht kontrolliert. Er muß es nicht für nötig gehalten haben.

Er hielt mich für tot.

Er war weg.

Ich war allein.

Es dauerte eine Weile, bis ich an diese drei Tatsachen richtig fest glauben konnte, und es dauerte noch ein bißchen länger, bis ich es riskierte, dementsprechend zu handeln.

Wenn ich mich nicht bewegte, würde ich dort sterben, wo ich gerade lag.

Mit Grauen machte ich mich an das Unvermeidliche: Ich versuchte, meinen linken Arm zu bewegen.

Herrgott, dachte ich, tut das weh.

Es tat zwar höllisch weh, aber sonst geschah nichts.

Ich bewegte meinen rechten Arm. Genauso schlecht. Sogar noch schlechter.

Jedenfalls keine Einschläge mehr im Rücken. Keine raschen Schritte, kein Schlag, kein letzter Vorhang. Vielleicht war ich wirklich allein. Um mich selbst zu beruhigen, hielt ich mich an diesen Gedanken. Was ich jetzt nicht gebrauchen konnte, war die Grausamkeit eines Katz-und-Maus-Spiels.

Ich legte beide Handflächen flach auf den modrigen Waldboden und versuchte, mich auf die Knie zu stemmen.

Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden. Nicht nur, daß ich es nicht schaffte, nein, die Anstrengung war so qualvoll, daß ich den Mund zum Schreien aufriß, hatte jedoch auch dazu nicht genug Luft. Mein Gewicht schmiegte sich wieder an die Erde, ich spürte nur noch den überwältigenden Schmerz und konnte nicht mehr denken, bevor er einigermaßen nachließ.

Irgend etwas stimmt nicht, dachte ich endlich. Abgesehen davon, daß ich mich nicht hochstemmen konnte, hielt mich zusätzlich etwas am Boden fest.

Vorsichtig, schwitzend, bei jedem Zentimeter von feurigen Klingen durchbohrt, schob ich die rechte Hand zwischen meinen Körper und den Boden, bis ich an etwas stieß, das so etwas wie ein Stock zwischen beiden sein mußte.

Ich muß auf einen spitzen Stock gefallen sein, dachte ich. Vielleicht bin ich gar nicht angeschossen worden. Doch, ganz bestimmt. In den Rücken getroffen. Da gab es keine Mißverständnisse.

Ich versuchte, den Schmerz in erträgliche Portionen einzuteilen, und zog meine Hand langsam, ganz langsam wieder heraus, und dann, nach einer Weile, ich konnte es kaum glauben, beugte ich den Arm, betastete meinem Rücken und kam auch da an den Stock, und dann mußte ich der brutalen Gewißheit ins Auge sehen, daß ich nicht von einer Kugel, sondern von einem Pfeil niedergestreckt worden war.

Ich blieb eine Zeitlang einfach liegen, um mich mit der Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache auseinanderzusetzen.

In meinem Körper steckte ein Pfeil, quer durch, von hinten nach vorne, irgendwo in der Gegend der unteren Rippen. Meine rechte Lunge war durchbohrt, deshalb atmete ich so seltsam. Wie durch ein Wunder war kein größeres Blutgefäß getroffen worden, sonst wäre ich inzwischen bereits innerlich verblutet. Das Ding saß ungefähr auf der Höhe des Herzens, aber etwas seitlich versetzt.

Schlimm genug. Furchtbar. Aber ich war am Leben.

Ich war zweimal getroffen worden, fiel mir ein. Eventuell steckten zwei Pfeile in mir. Ob einer oder zwei, ich lebte.

Überleben fängt im Bewußtsein an.

Ich hatte das geschrieben, und ich wußte, daß es stimmte. Aber einen Pfeil überleben, knapp zwei Kilometer von der nächsten Straße entfernt, ein Mörder in der Nähe, der sichergehen würde, daß ich es nicht schaffte… in welcher Ecke des Bewußtseins sollte man nach dem Willen suchen, so etwas zu überleben? In welcher Ecke, wenn das bloße Hinknien einer unvermeidlichen Folter glich und einem der gesunde Menschenverstand einhämmerte, einfach liegenzubleiben und auf Rettung zu warten?

Ich dachte über Rettung nach. Die war weit weg. Es würde noch einige Stunden dauern, bevor mich jemand suchte, nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Die Sonne auf meinem Rücken war warm, aber die Temperaturen der Februarnächte sanken noch bis zum Gefrierpunkt ab, und ich hatte nur einen Pullover an. Theoretisch würden die leuchtenden Markierungen die Retter selbst bei Nacht zu mir führen… allerdings hätte jeder clevere Mörder den Flecken direkt an der Straße weggewischt, nachdem er selbst den Weg zurück gefunden hatte.

Realistisch gesehen konnte ich nicht vor morgen gerettet werden. Ich stellte mir vor, ich würde während des Wartens sterben: Ich könnte in der Nacht sterben. Man stirbt an Verletzungen, weil der Körper einen Schock erleidet. Das allgemeine Trauma, nicht nur die Wunde als solche, konnte einen umbringen.

Immer nur ein Gedanke, eine Entscheidung auf einmal, nicht alles durcheinander.

Lieber beim Versuch, mich in Sicherheit zu bringen, sterben.

Gut. Nächste Entscheidung.

In welche Richtung mußte ich gehen?

Die Fährte lag klar und deutlich vor mir, doch war mein Beinahemörder auf diesem Weg gekommen und wieder gegangen — es mußte so gewesen sein — und sollte er aus einem bestimmten Grund noch einmal zurückkommen, dann wollte ich ihm auf keinen Fall begegnen.

Ich hatte einen Kompaß in der Hosentasche.

Die weit entfernte Straße lag direkt nördlich von der kleinen Lichtung, und der direkte Weg führte etwas links von der Farbspur durch den Wald.

Die Spitze des Pfeiles konnte nicht tief in der Erde stecken, dachte ich. Ich war gefallen, als er schon in mir steckte. Sie konnte nicht tiefer als einen Zentimeter drinstecken.

Ich verschloß meine Gedanken von den Konsequenzen, brachte meine Hände in Position und fing an zu ziehen.

Die Pfeilspitze löste sich, und ich lag auf der Seite, angsterfüllt und von einem Schwächeanfall bedroht. Als ich an mir heruntersah, erblickte ich einen spitzen, schwarzen Stummel, der aus der roten Wolle herausragte.

Schwarz. So lang wie ein Finger. Hart und spitz. Ich berührte die Nadelspitze und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan.

Nur ein Pfeil. Nur einer ist ganz durchgegangen, wenigstens das.

Erstaunlich wenig Blut. Vermutlich konnte ich es nicht genau sagen, denn das Blut hatte die gleiche Farbe wie der Pullover. Andererseits gab es auch keinen großen nassen Fleck.

Die anderthalb Kilometer bis zur Straße waren eine unüberwindbare Entfernung. Auch nur einen einzigen Zentimeter zurückzulegen war unglaublich schmerzhaft. Doch auch Zentimeter addieren sich. Am besten gleich anfangen.

Erst den Kompaß.

Innerlich grinsend und mit einem seelischen Seufzer holte ich den Kompaß aus der Tasche und peilte nach Norden. Allem Anschein nach war Norden in der Richtung, in die meine Füße zeigten.

Ich wälzte mich mit großer Anstrengung auf die Knie und fühlte mich verzweifelt, entsetzlich, fürchterlich elend. Der Anflug von Humor erstarb schnell. Es kostete mich so viel Überwindung, daß ich beinahe sofort und auf der Stelle aufgegeben hätte. Mißhandeltes Gewebe, durchbohrte Lungen, von allen Seiten Alarmzeichen.

Ich hielt mich auf den Knien, setzte mich auf die Fersen zurück, hielt den Kopf gebeugt, atmete so wenig wie möglich, starrte auf den Pfeil, der aus mir herausragte, und dachte mir, daß ich das Überlebensprogramm nicht überstehen würde.