Neben mir in der Erde steckte ein dünner, bleicher Stab. Ich starrte ihn geistesabwesend an, betrachtete ihn dann jedoch mit größerer Aufmerksamkeit, denn mir fiel das Ding ein, das an meinem Ohr vorbeigezischt war.
Ein Pfeil, der mich verfehlt hatte.
Er war ungefähr so lang wie mein Arm. Ein geschälter, feingemaserter Stock, schnurgerade. Eine Kerbe im sichtbaren Ende, mit der man ihn auf die Bogenschnur setzen konnte. Keine Feder, um den Flug zu stabilisieren.
In allen meinen Handbüchern standen Anleitungen, wie man Pfeile macht.
«Stecken Sie die Spitze in die heiße Glut, damit sich die Fasern zusammenziehen und härten, so erreichen Sie eine größere Durchschlagskraft…«
Die gehärtete schwarze Spitze hatte mich einwandfrei durchbohrt.
«Schneiden Sie zwei Kerben in das andere Ende; eine flachere, in die die Bogensehne eingelegt wird, und in die tiefere wird eine geformte Feder gesteckt, um als Schaftführung zu dienen, die den Pfeil gerade ins Ziel bringt.«
Auch an Illustrationen zur Veranschaulichung hatte ich gedacht.
Wenn die drei Pfeile allesamt ordentliche Schaftfedern gehabt hätten… wenn es nicht windig gewesen wäre…
Ich schloß ermattet die Augen. Auch ohne Federn war das Vorhaben wirkungsvoll genug verlaufen.
Schweißüberströmt bog ich sehr behutsam meine linke Hand auf die Schulter und tastete nach dem dritten Pfeiclass="underline" er steckte in meinem Pullover, doch lag er recht lose in meiner Hand. Zitternd packte ich ihn fester und zog ihn ganz heraus, mit einem stechenden Schmerz, wie wenn man einen Holzsplitter herauszieht.
Die schwarze Spitze des Pfeils war rot vor Blut, doch ich nahm an, daß sie nicht weiter als bis auf eine Rippe oder bis zur Wirbelsäule eingedrungen war. Ich mußte mir also nur um den ersten Pfeil Sorgen machen.
Nur um den einen.
Mehr als genug.
Ihn herauszuziehen wäre Wahnsinn gewesen, selbst wenn ich mich dazu hätte überwinden können. Auch bei den Schwertkämpfen der Vergangenheit hatte nicht die in die Lungen eindringende Klinge den Tod hervorgerufen, sondern erst das Herausziehen des Fremdkörpers. Durch das Loch kann Luft ein- oder ausströmen, wodurch das geschlossene, natürliche Vakuumsystem zerstört wird. Sobald es Verbindungen, also Löcher, nach draußen gibt, kollabieren die Lungen und können nicht mehr atmen. Solange der Pfeil stecken blieb, hielt sich die Blutung in Grenzen. Ich konnte zwar mit dem Pfeil im Leib sterben, ich würde jedoch schneller sterben, wenn ich ihn herauszog.
Die erste Faustregel beim Überleben eines Unglücks, so hatte ich geschrieben, war, zu akzeptieren, daß es passiert ist, daß man aus dem, was einem verblieb, das Beste machte. Selbstmitleid, Gewissensbisse, Verzweiflung und Selbstaufgabe brachten einen mit Sicherheit nicht nach Hause. Das Überleben begann und erfüllte sich im Bewußtsein. Na schön, sagte ich mir, dann befolge deine eigenen Regeln.
Akzeptier den Pfeil. Akzeptier deinen veränderten Zustand. Akzeptier, daß es weh tut, daß in der nächsten Zukunft jeder einzelne Moment weh tun wird. Nimm es hin. Geh davon aus und mach weiter.
Immer noch auf den Knien drehte ich mich um und schaute nach Norden.
Die Lichtung gehörte mir. Kein Mann mit einem Gewehr. Kein bewaffneter Bogenschütze.
Auf eine unbegreifliche Weise hatte sich der Tag nicht verändert. Die Sonne warf noch immer ihren gefleckten
Mantel, und die Bäume knarrten und vibrierten klangvoll in der ältesten aller Symphonien. Viele vor mir waren in den Wäldern von Pfeilen getroffen und mit ihrer Sterblichkeit an Orten konfrontiert worden, die schon so ausgesehen hatten, noch bevor die Menschen angefangen hatten, sich gegenseitig umzubringen.
Ich hingegen, wenn ich nur vom Fleck kam, konnte Chirurgen und Antibiotika erreichen, und dann ein Hurra auf den Gesundheitsdienst. Ich rutschte langsam auf den Knien über die Lichtung, immer in Richtung einer Stelle links von dem markierten Pfad.
Es war nicht so schlimm…
Es war grauenhaft.
Um Himmels willen, sagte ich mir, ignorier es. Gewöhn dich daran. Denk an den Norden.
Es war ganz unmöglich, den ganzen Weg bis zur Straße auf Knien zurückzulegen; das Unterholz war zu dicht, die Schößlinge an manchen Stellen zu eng beieinander. Ich mußte aufstehen.
Also, wenn es denn sein mußte, zog ich mich an den Zweigen und Ästen langsam hoch.
Sogar meine Beine fühlten sich eigenartig an. Ich klammerte mich mit aller Kraft und mit geschlossenen Augen an einen jungen Baum und wartete darauf, daß es besser wurde, sagte mir wieder und wieder, wenn ich jetzt erneut hinfiele, dann würde es noch schlimmer werden.
Norden.
Schließlich machte ich die Augen auf und zog den Kompaß aus der Jeanstasche, in die ich ihn gestopft hatte, damit ich die Hände frei hatte, um aufzustehen. Ich hielt mich mit einer Hand fest und verlängerte im Geiste die Linie der Nadel, um mir den nächsten kleinen Baum einzuprägen, den ich sehen konnte. Dann steckte ich den Kompaß wieder weg und hangelte mich mit unvorstellbarer Langsamkeit zentimeterweise voran. Nach einer Weile erreichte ich das Ziel und hielt mich daran fest, zu Tode erschöpft.
Ich hatte vielleicht zehn Meter zurückgelegt. Ich war ausgepumpt.
«Lassen Sie es nicht bis zur völligen Erschöpfung kommen«, hatte ich geschrieben. Großer Gott.
Ich ruhte mich aus, es war notwendig, ich war zu sehr geschwächt.
Nach einer Weile befragte ich den Kompaß, prägte mir einen anderen jungen Baum ein und machte mich auf den Weg. Als ich mich umdrehte, konnte ich die Lichtung nicht mehr sehen.
Ich bin geliefert, dachte ich. Ich wischte mir den Schweiß mit den Fingern von der Stirn und blieb ruhig stehen, wartete, damit der Sauerstoff im Blut wieder einen funktionsfähigen Level erreichen konnte.
Bis zu einem funktionstüchtigen Modus, hätte Gareth gesagt.
Gareth.
Sherwood Forest, dachte ich, vor achthundert Jahren. Wessen Gesicht würde ich auf die Schultern des Sheriffs von Nottingham setzen.
Ich ging noch mal zehn Meter, und noch mal, vorsichtig, nicht stolpern, hielt mich an Zweigen fest wie an einem Geländer. Ich begann vor Anstrengung zu keuchen. Der Schmerz war nun zur Konstante geworden. Ignorier ihn. Die Schwäche war das größere Problem und die Atemnot.
Bei der nächsten Verschnaufpause fing ich an, einige unangenehme Berechnungen anzustellen. Ich hatte ungefähr fünfzig Meter zurückgelegt. Es kam mir wie eine Marathonstrecke vor, realistisch gesehen war es nicht mehr als der dreißigste Teil von anderthalb Kilometern, was bedeutete, daß ich noch neunundzwanzig Dreißigstel vor mir hatte. Ich hatte die fünfzig Meter nicht mit der Uhr gestoppt, aber es war nicht gerade ein Sprint gewesen. Nach meiner Uhr war schon vier Uhr vorbei, eine schlimme Nachricht, die durch den tiefen Stand der Sonne bestätigt wurde. Es würde bald dunkel werden.
Ich mußte so schnell wie möglich vorankommen, solange ich den Weg noch sehen konnte, mich dann länger ausruhen und dann wahrscheinlich kriechen. Vernünftiger Plan, aber nicht genug Kraft, um schneller zu gehen.
Noch mal fünfzig Meter in fünf Etappen. Wieder ein Dreißigstel Wegs zurückgelegt. Wunderbar. Ich hatte fünfzehn Minuten dafür benötigt.
Weitere Berechnungen: Mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Metern in fünfzehn Minuten würde es noch knapp acht Stunden dauern, bis ich die Straße erreicht hatte. Dann wäre es bereits eine halbe Stunde nach Mitternacht, wobei bei dieser Rechnung längere Pausen oder gar Kriechen nicht berücksichtigt waren.
Verzweiflung war einfach. Überleben dagegen nicht.
Zum Teufel mit der Verzweiflung, dachte ich. Los, weiter.
Gelegentlich stieß ich mit dem Schaft des Pfeiles, der mir aus dem Rücken ragte, irgendwo dagegen, was mich japsend zum Stehenbleiben zwang. Ich wußte nicht, wie lang er war, konnte das Ende nicht mit den Fingern erreichen, daher konnte ich nicht immer beurteilen, wieviel Platz ich brauchte, um damit an Hindernissen vorbeizukommen.