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Da ich nur schnell die Kamera abholen wollte, hatte ich nicht den kompletten Beutel mit meiner Ausrüstung mitgebracht, doch ich hatte den Gürtel, in dem sich mein Messer und das Vielzweckfeuerzeug befand; die Rückseite dieses Instruments war als Spiegel gedacht. Nach den nächsten fünfzig Metern zog ich es heraus und betrachtete mir die Bescherung.

Der Schaft, gerade, hell und kräftig, ragte etwa fünfundvierzig Zentimeter aus meinem Rücken heraus. Am Ende befand sich eine Kerbe für die Sehne, aber keine Schaftfedern.

Mein Spiegelbild betrachtete ich nicht. Ich wollte mir nicht bestätigen lassen, wie ich mich fühlte. Ich steckte das kleine Werkzeug wieder in die Hülle und legte sehr vorsichtig weitere fünfzig Meter zurück.

Nach Norden. Jeweils zehn Meter ins Auge fassen. Zehn Meter zurücklegen. Fünf mal zehn Meter. Kurze Pause.

Die Sonne zu meiner Linken sank immer tiefer, und die blauen Schatten der Dämmerung ließen sich auf den Kiefern und Fichten nieder, krochen zwischen die Zweige der Schößlinge und Erlen. Im Wind verschwammen die Schatten zu Streifenmustern und strichen wie umherstreunende Tiger umher.

Fünfzig Meter, Pause. Fünfzig Meter, Pause. Fünfzig Meter, Pause.

An nichts anderes denken.

Bald geht der Mond auf, dachte ich. Vollmond lag erst drei Tage zurück. Solange der Himmel klar blieb, konnte ich bei Mondlicht weitergehen.

Die Dämmerung senkte sich herab, und bald konnte ich keine zehn Meter weit mehr sehen. Nachdem ich mit dem Pfeil innerhalb einer Minute zweimal gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen war, blieb ich stehen und ging langsam in die Knie, lehnte den Kopf und die Vorderseite meiner linken Schulter gegen einen jungen

Birkenstamm, erschöpft wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Womöglich schrieb ich ja eines Tages ein Buch darüber, dachte ich.

Womöglich nannte ich es dann… Außenseiter.

Ein unerwarteter Treffer aus der Entfernung.

Vielleicht nicht einmal von so weit her. Zweifellos war der Schütze nur ein paar Meter von der Lichtung entfernt gewesen, damit er freie Sicht hatte. Vielleicht nur ein Treffer aus der Nähe.

Er hatte dort bereits auf mich gewartet, überlegte ich mir. Wenn er mir gefolgt wäre, hätte er zu nah an mich herankommen müssen, denn ich war sofort auf die Kamera zugegangen, und in diesem Falle hätte ich ihn, trotz Wind, gehört. Er mußte vor mir dort gewesen sein und auf der Lauer gelegen haben, und ich war direkt auf den weithin sichtbaren Köder losgegangen, hatte ihm ein perfektes Ziel dargeboten, einen breiten Rücken in einem hellroten Pullover, eine todsichere Sache.

Eine Falle.

Ich bin in eine hineingestolpert, genau wie Harry.

Ich lehnte am Baum und rutschte langsam daran herunter. Ich fühlte mich absolut grauenhaft.

Wenn ich der Bogenschütze gewesen wäre, dachte ich, hätte ich auf meinem Platz gewartet, in der Hocke, getarnt, unendlich geduldig, den Pfeil auf der Sehne. Da kommt das Opfer angelaufen, völlig ahnungslos, geht auf die Kamera zu, stellt sich in Position. Aufstehen, zielen… Volltreffer gleich beim ersten Schuß.

Noch zweimal auf den gefallenen Körper schießen. Schade um die Pfeile. Noch ein Treffer.

Opfer offensichtlich tot. Noch ein bißchen warten, um sicherzugehen. Alles in Ordnung. Dann der Rückzug, den Pfad entlang. Auftrag ausgeführt.

Wer war der Sheriff von Nottingham.?

Ich versuchte, eine bequemere Stellung einzunehmen, aber es gab keine, wirklich nicht. Um meine Knie etwas zu entlasten, ließ ich mich auf die linke Hüfte sinken, den Kopf und die linke Körperhälfte gegen den Baum gelehnt. Das war wesentlich besser als das Gehen und der Kampf gegen den Wald. Ob es auch besser war, als auf der Lichtung liegenzubleiben, konnte ich nicht recht entscheiden. Und doch: Wenn er, der Schütze, trotz allem noch einmal zurückgekommen war, um nachzusehen. wenn er das getan hatte, dann wußte er, daß ich noch am Leben war, aber er würde mich dort, wo ich mich jetzt aufhielt, niemals finden, tief im undurchdringlichen Schatten des Waldes, auf einem Pfad, dem er im Dunkeln nicht folgen konnte.

Es war blanke Ironie, dachte ich, daß ich für die Expedition mit Gareth und Coconut absichtlich einen Flecken auf der Landkarte ausgesucht hatte, der möglichst weit von der Straße entfernt lag. Ich hätte schlauer sein sollen.

Es wurde immer dunkler im Wald, doch durch die Zweige hindurch sah ich die Sterne. Ich lauschte dem Wind. Mir wurde kalt. Ich kam mir sehr verlassen vor.

Ich ließ mich ein bißchen treiben, existierte ganz einfach nur; ließ die Gedanken umherschwirren. Ich fühlte mich formlos, ein Teil von Raum und Zeit, eine Substanz, ein Stück des Kosmos. Das Bewußtsein vom Alter der Welt, das ich stets in mir trug, schien sich zu intensivieren, kam mir wie ein Trost vor. Alles war eins. Jedes Wesen war in sich vollständig, aber allein. Man konnte sich auflösen und trotzdem weiterexistieren… Halb im Schlaf schlingerte ich am Rand des Bewußtseins entlang, verzapfte Unsinn.

Ich entspannte mich zu sehr. Mein Gewicht drückte gegen den Baum, rutschte nach unten, und der Pfeil kam mit dem Boden in Berührung. Der ausgelöste Schmerz brachte mich auf teuflische Weise in die Wirklichkeit zurück, ich war hellwach und bei Bewußtsein, fest entschlossen, gerade jetzt noch nicht zu einem Teil des ewigen Mysteriums zu werden. Ich kämpfte mich wieder ins Gleichgewicht, versuchte, mich auf die zermalmenden Wellen der Pein hinaufzuschwingen, und entdeckte zu meiner verzweifelten Bestürzung, daß das Pfeilstück vorne fast drei Zentimeter weiter herausragte.

Ich hatte den Pfeil ein Stück weiter durchgedrückt. Ich hatte weiß der Teufel welche neuen Verletzungen in meiner Lunge angerichtet. Ich wußte nicht, wie ich das ertragen sollte, was mein Körper fühlte.

Ich atmete weiter. Ich lebte weiter. Mehr konnte ich nicht sagen.

Die allerschlimmsten Qualen ließen etwas nach.

Mir kam es vor, als hätte ich sehr lange in der kalten Dunkelheit gesessen. Ich atmete flach, rührte mich nicht, wartete nur ab. Endlich hellten sich die Schatten auf, und der Wald schien in sanftes Licht gebadet zu sein. Im Osten ging hell und klar der Mond auf. Den Augen, die so lange an die Dunkelheit gewöhnt waren, kam es wie Tageslicht vor.

Ich mußte weiter. Ich holte den Kompaß hervor, hielt ihn dicht und waagrecht unter die Augen, wartete, bis sich die Nadel auf Norden eingependelt hatte, schaute in diese Richtung und prägte mir die ersten Meter ein.

Die Gedanken in Handlungen umzusetzen erwies sich als unvermeidbare Qual. Alles war wund, jeder Muskel schien über eine direkte Leitung mit dem Pfeil verbunden zu sein. Grausame Stiche schossen durch meine Nervenbahnen wie stählerne Blitze.

Na und, sagte ich mir. Hör auf mit dem Gejammer. Vergiß, wie es sich anfühlt, konzentrier dich auf den Weg vor dir.

Konzentrier dich auf den Sheriff…

Ich zog mich wieder empor, schwankte ein bißchen, schwitzte, klammerte mich überall fest, stöhnte einige Male, gab mir selbst Befehle. Setz einen Fuß vor den anderen, das ist der einzige Weg, der nach Hause führt. Daß ich mit dem Pfeil angestoßen war, erwies sich nicht als die letzte Katastrophe. Meine Bewegungen kosteten anscheinend genausoviel Atem wie vorher, was hieß, mehr als mir momentan zur Verfügung stand. Ich konnte im Mondlicht nicht immer so weit voraus sehen, so daß ich den Kompaß öfter zu Rate ziehen mußte. Das verzögerte alles ungemein, da ich ihn immer wieder aus der Jeanstasche herausziehen und hinterher wieder hineinstecken mußte. Nach einer Weile schob ich ihn in meinen Pulloverärmel. Durch diese Verbesserung wurde zwar der alte fünfzig Meter Rhythmus über den Haufen geworfen, aber das machte nicht sonderlich viel aus. Statt dessen schaute ich auf meine Uhr und machte jede Viertelstunde eine kleine Pause.

Der Mond stieg hoch am Himmel empor und strahlte ungehindert in den Wald hinein, eine silberne Gottheit, der ich am liebsten meine Verehrung entgegengebracht hätte. Bis zu einem gewissen Grad wurde ich wieder unempfindlich gegen die Beschwerden und schleppte mich weiter, peilte regelmäßig meine Richtung an, atmete vorsichtig und richtete mein ganzes Streben darauf, immer leicht unter der Leistungsgrenze zu arbeiten, damit ich bis zum Schluß durchhielt.