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Der Schütze mußte ein Gesicht haben.

Wenn ich klar denken konnte, wenn sich nicht jedes bißchen Aufmerksamkeit daraufrichtete, nicht hinzufallen, dann kam ich der Wahrheit womöglich etwas näher. Seit dem Pfeil hatten sich die Dinge geändert. Eine ganze Menge neuer Tatsachen mußten in Betracht gezogen werden. Ich stolperte über eine Wurzel, hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und ließ die neuen Tatsachen Tatsachen sein.

Langsam, unheimlich langsam ging ich nach Norden. Als ich wieder einmal die Hand in den Ärmel schob, um den Kompaß herauszuholen, war er nicht mehr da.

Ich hatte ihn fallen lassen.

Ohne ihn konnte ich nicht weitergehen. Ich mußte zurück. Ich bezweifelte, daß ich ihn im Unterholz wiederfinden würde. Eine so tiefe Verzweiflung überschwemmte mich, daß ich mich am liebsten restlos in Tränen aufgelöst hätte.

Du mußt die Sache in den Griff kriegen, sagte ich mir. Stell dich nicht so blöd an. Denk nach.

Ich war in Richtung Norden gegangen. Wenn ich mich um genau einhundertachtzig Grad drehte, blickte ich in die Richtung, aus der ich gekommen war.

Das war grundsätzlich wichtig.

Nachdenken.

Ich stand da und wartete, bis die Panik so weit abgeklungen war, daß ich einen Plan fassen konnte; dann zog ich mein Messer aus der Scheide an meinem Gürtel und schnitzte einen Pfeil in die Rinde des Baumes vor mir. Ein Pfeil, der himmelwärts zeigte. Ich hatte nicht nur Pfeile im Rücken, sondern auch im Kopf, fiel mir ein.

Der Pfeil im Baum zeigte nach Norden.

Der Kompaß mußte irgendwo in Sichtweite dieses Pfeiles liegen. Ich würde kriechen müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, ihn zu finden.

Ich ließ mich vorsichtig auf die Knie hinab und drehte mich langsam um, nach Süden. Das Gewebe aus braunem, ellenlangem, vertrocknetem Gras und alten Blättern und den blattlosen Ranken der neuen Triebe bedeckte jeden Zentimeter zwischen den Schößlingen und den größeren Bäumen. Selbst bei Tageslicht und im Vollbesitz aller Kräfte wäre es nicht gerade eine leichte Suche geworden, aber unter den gegebenen Bedingungen war es beinahe aussichtslos.

Ich kroch dreißig, vierzig Zentimeter vorwärts, tastete den Boden um mich herum ab, versuchte, das Gestrüpp zu teilen, hoffte verzweifelt auf das Unmögliche. Ich drehte mich nach dem Pfeil am Baum um, kroch wieder ein Stück weiter. Nichts. Noch ein Stück, und noch ein Stück. Nichts. Ich kroch so weit, bis ich den Pfeil nur noch als blassen Fleck gegenüber der dunklen Rinde erkennen konnte, und wußte, daß ich schon über den Punkt, an dem ich die letzte Orientierung vorgenommen hatte, hinaus war.

Ich drehte mich um, kroch zurück und suchte immer noch mit einer Hand im unübersichtlichen Unterholz herum. Nichts. Nichts. Die Hoffnung löste sich in Nichts auf. Die Schwäche schien die Oberhand zu gewinnen.

Der Kompaß mußte hier irgendwo liegen.

Wenn es mir nicht gelang, ihn zu finden, dann mußte ich bis zum Morgen hier warten und mich mit Hilfe der Sonne und meiner Uhr nach Norden weiterarbeiten. Falls die Sonne scheinen würde. Wenn ich noch so lange durchhielt. Die Nachtkälte zog immer mehr an, und ich war inzwischen deutlich schwächer geworden.

Auf meiner ergebnislosen Suche kroch ich bis zu dem Baum zurück, drehte dort um und kroch auf einem etwas anderen Weg noch einmal zurück, suchte und suchte, die

Hoffnung löste sich Zentimeter um Zentimeter in fortschreitende Schwäche auf, die Entschlossenheit zerbrösel-te zu Scheitern.

Einmal, als ich mich nach dem Pfeil am Baum umdrehte, sah ich ihn nicht mehr. Ich wußte nicht mehr, wo Norden war.

Ich hörte auf zu suchen, ließ mich benebelt auf die Fersen sinken und blickte der endgültigen Niederlage ins Auge-

Alles schmerzte unvermindert, und ich konnte mir nicht länger einreden, es einfach zu ignorieren. Ich war tödlich verwundet und dabei, auf den Knien zu sterben; ich kroch im vertrockneten Gras herum, meine Zeit verrann mit dem Mondlicht, und die Schatten kamen näher.

Ich spürte, daß ich es nicht mehr länger aushalten konnte. Ich hatte keinen Willen mehr. Ich war immer davon überzeugt gewesen, daß das Überleben von der geistigen Entschlossenheit abhing, doch jetzt wußte ich, daß es Dinge gab, die man nicht überleben konnte. Man konnte nicht überleben, solange man nicht daran glaubte, daß man überlebte, und mein Glaube daran war erloschen, war zusammen mit Schweiß und Schmerz und Schwäche im Wind zerstoben.

Kapitel 18

Zeit… unbestimmbare Zeit… verrann.

Zu guter Letzt bewegte ich mich nur noch, weil mir kalt war, weil es unbequem wurde: Ich rutschte auf den Knien im Kreise herum, ohne darüber richtig nachzudenken, versuchte ich ein Nest zu finden, in das ich mich betten konnte, in dem ich vielleicht auch sterben würde.

Als ich aufschaute, sah ich den Pfeil in der Baumrinde wieder. Er war nicht weit weg, war nie weit entfernt gewesen, nur hinter einer Gruppe von Schößlingen aus dem Blickfeld geraten.

Teilnahmslos dachte ich daran, wie wenig mir das jetzt nützte. Der Pfeil zeigte in die Richtung, aber zehn Meter weiter hinten, ohne Kompaß — wo war dann Norden?

Der Pfeil in der Rinde zeigte nach oben.

Ich folgte ihm langsam mit meinem Blick, wie bei einer Anweisung. Ich schaute nach oben, zum Himmel; dort oben, ab und zu von den rauschenden Zweigen verdeckt, glitzerte das Sternbild des Großen Wagens… und der Polarstern.

Zweifellos war meine Route von da an nicht mehr so schnurgerade und akkurat wie zuvor, doch ich kam wenigstens voran. Mit dieser Alternative war es einfach nicht möglich, sich irgendwo zusammenzurollen und aufzugeben. Ich krallte mich überall fest, atmete so wenig wie möglich, schleppte mich zentimeterweise voran. Schon bald hatte ich den vorigen Zustand wiedererlangt, in dem ich den Schmerz einfach nicht mehr spürte, und bei jeder Pause, wenn ich zu den Sternen hinaufschaute, fühlte ich mich leichter und körperloser denn je.

Guten Mutes, könnte man beinahe sagen.

Ich schaute auf die Armbanduhr und sah, daß es elf Uhr war, was eigentlich nichts bedeutete. Vor halb eins würde ich die Straße nicht erreichen, und ich wußte nicht, wieviel Zeit ich bei der Suche nach dem Kompaß vertrödelt, wie lange ich resigniert auf der Erde gekniet hatte. Ich wußte nicht, wie schnell ich mittlerweile vorwärtskam, und ich hatte kein Interesse mehr daran, es auszurechnen. Ich wußte nur, daß ich dieses Mal so lange gehen würde, wie meine Lungen und Muskeln mitspielten. Überleben oder nicht, die Entscheidung war gefallen.

Das Gesicht des Schützen…

Einzelne Gedankensplitter purzelten unzusammenhängend durcheinander und setzten sich zu einem Rückblick auf die vergangenen drei Wochen zusammen.

Ich überlegte mir, wie ich ihnen vorkommen mußte, den Leuten, die ich nach und nach kennengelernt hatte.

Ein Schriftsteller, ein Fremder, der plötzlich in ihrer Mitte auftauchte. Ein Mensch mit eigenartigen Fähigkeiten, mit einem eigenartigen Wissen, obendrein körperlich fit. Einer, dem Tremayne vertraute, einer, den er um sich haben wollte. Einer, der sich ein paarmal an der richtigen Stelle befand. Der zur Bedrohung geworden war.

Ich dachte an den Tod von Angela Brickell und an die Anschläge auf Harry und auf mich, und es schien so, als hätten alle drei nur aus einem Grund stattgefunden: alles so zu belassen, wie es war. Sie waren nicht durchgeführt worden, um etwas zu erreichen, sondern um etwas zu bewahren.

Immer einen Fuß vor den anderen.

Schwacher kleiner Stern, halb versteckt, hin und wieder vom Wind enthüllt; flackernde Nadelspitze in einer wirbelnden Galaxis, Hoffnung aller Navigatoren… zeig mir den Weg nach Hause.