Angela Brickell wurde vermutlich ermordet, damit sie den Mund hielt. Harry hatte sterben sollen, um seine Schuld festzuschreiben. Ich selbst sollte an dem gehindert werden, was Fiona und Tremayne vorausgesagt hatten: für Doone die Wahrheit herauszufinden.
Sie alle erwarteten zuviel von mir.
Wegen dieser hohen Erwartungen war ich jetzt halb tot.
All diese Schlußfolgerungen waren nichts als Vermutungen, dachte ich. Keine Fakten und keine Geständnisse, die einem weiterhalfen, nur Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten.
Der Bogenschütze mußte jemand sein, der wußte, daß ich noch einmal wegen Gareth’ Kamera hierher zurückkommen würde. Es mußte jemand sein, der wußte, wie man die Fährte wieder finden konnte. Es mußte jemand sein, der in der Lage war, nach Anleitung einen tauglichen Bogen und spitze Pfeile anzufertigen, der Zeit hatte, sich auf die Lauer zu legen, der mich unschädlich machen wollte und der ein ganzes Universum zu verlieren hatte.
So wie sich in Shellerton Nachrichten schlagartig herumsprachen, könnte theoretisch jeder von der verlorenen Kamera und der Möglichkeit, sie wiederzufinden, gehört haben. Andererseits hatte die Expedition der Jungen erst gestern stattgefunden… gütiger Gott… erst gestern… und wenn… falls… ich zurückkam, konnte ich mit Sicherheit herausfinden, wer es wem weitererzählt hat.
Immer ein Schritt nach dem anderen. Bei jedem Atemzug rasselte und quietschte Flüssigkeit in meinen Lungen.
Damit lebten manche Menschen recht lange. Asthma. Emphyseme… jahrelang. Die Flüssigkeit nahm Lungenkapazität weg… jemanden mit Emphysemen wird man nicht einfach so die Treppe hinaufstürmen sehen.
Angela Brickell war klein und leicht gewesen, ein Kinderspiel.
Harry und ich waren groß und stark, nicht so leicht aus nächster Nähe anzugreifen. Die halbe Rennszene hatte gesehen, wie ich Nolan aus den Angeln gehoben hatte; es war bekannt, daß ich mich sehr gut selbst verteidigen konnte. Dann also spitze Stangen für Harry und Pfeile für John, und beide Male rettete uns nur reines Glück. Ich war dabei, um Harry zu helfen, und der Pfeil hatte mein Herz verfehlt.
Glück.
Der klare Himmel war Glück.
Ich wollte das Gesicht des Schützen nicht sehen.
Das plötzliche Eingeständnis war eine einzige Offenbarung. Obwohl ich das Ergebnis seines handwerklichen Geschicks im Körper trug, dachte ich an die Trauer, die unvermeidlich über die anderen hereinbrechen mußte. Und trotzdem mußte ich ihn entlarven, denn bei jemandem, für den Mord schon dreimal die Lösung seiner Probleme gewesen war, konnte man nicht sicher sein, daß er es nicht wieder probierte. Mord wurde schnell zur Gewohnheit, hatte mir mal jemand gesagt.
Endlose Nacht. Der Mond wanderte in silberner Pracht hinter mir über den Himmel. Linker Fuß. Rechter Fuß. An den Zweigen festhalten. Stückweise atmen.
Mitternacht.
Wenn ich das hier durchstehe, dachte ich, dann unternehme ich ziemlich lange keine Waldspaziergänge mehr. Ich werde mich auf meinen Dachboden zurückziehen und mit meinen Figuren nicht allzu hart ins Gericht gehen, wenn sie hoffnungslos am Boden liegen.
Ich dachte an Fringe und an die Downs und fragte mich, ob ich jemals bei einem Rennen reiten würde, und ich dachte an Ronnie Curzon und meinen Verleger, an die amerikanischen Lizenzen, an Erica Uptons Rezensionen, und das alles schien so weit weg zu sein wie der Große Wagen und nichts, überhaupt nichts mit meiner momentanen Situation zu tun zu haben.
Die Gerüchteküche von Shellerton. Ein Knäuel gemeinsamen Wissens. Und doch, diesmal. dieses eine Mal.
Ich blieb stehen.
Der Bogenschütze hatte ein Gesicht.
Doone würde mit Alibis und Tabellen jonglieren müssen, Gelegenheiten nachweisen, nach Fußspuren suchen. Doone hatte es mit dem hinterhältigsten Wesen zu tun, mit dem besten Schauspieler von allen.
Vielleicht täuschte ich mich. Doone mußte es herausfinden.
Ich kroch weiter voran. Ein Kilometer hatte einhunderttausend Zentimeter, anderthalb Kilometer hatten einhundertfünfzigtausend Zentimeter.
Na und?
Ich hätte mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zwanzigtausend Zentimetern pro Stunde vorwärts kommen können, ohne die Unterbrechungen. Zwanzigtausend Zentimeter. Zweihundert Meter. Ein Furlong! Hervorragend. Der Rekord im englischen Pferderennsport.
Funkle, funkle, kleiner Stern…
Nur ein Vollidiot versuchte, mit einem Pfeil durch die Brust anderthalb Kilometer weit zu laufen. Darf ich vorstellen: Mr. Kendall, Vollidiot.
Nur Mut.
Ein Uhr.
Der Mond ist vom Himmel herabgestiegen, dachte ich, und jetzt tanzt er nicht weit vor mir im Wald. Blödsinn, das kann nicht sein. Aber da war es, ganz sicher. Ich sah den hellen Schein.
Lichter. Ich wurde wieder einigermaßen klar im Kopf, rang mich zu ungläubigem Verstehen durch.
Die Straße dort gab es wirklich, sie war da, nicht ein verschwundener Mythos in einem verwunschenen Hexenwald. Ich war tatsächlich dort angekommen. Wenn ich genug Sauerstoff übrig gehabt hätte, ich hätte vor Freude laut geschrien.
Ich kam beim letzten Baum an, lehnte mich geschwächt dagegen und fragte mich, was ich als nächstes tun solle. Die Straße war so lange mein einziges Ziel gewesen, daß ich keinen Gedanken daran verschwendet hatte, was danach passieren sollte. Es war dunkel — keine Autos unterwegs. Was tun? Auf die Straße kriechen und dabei riskieren, überfahren zu werden? Den Anhalter markieren? Einem zufällig vorbeikommenden Autofahrer den Schrecken seines Lebens einjagen?
Ich fühlte mich erbärmlich ausgepumpt. Unter Zuhilfenahme des Baumstammes rutschte ich auf die Knie, lehnte Kopf und linke Schulter gegen die Rinde. Meiner Berechnung nach stand, falls ich ungefähr einen geraden Kurs eingehalten hatte, der Land Rover ein gutes Stück nach rechts die Straße runter, doch es war sinnlos und unmöglich, dorthin zu wollen.
Aus genau dieser Richtung fingerte Scheinwerferlicht um die Kurve; der Wagen schien nicht schnell zu fahren. Ich versuchte, mit dem Arm zu winken, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, doch alles, was ich zustande brachte, war ein müdes Wedeln mit der Hand.
Das mußte noch besser klappen.
Das Auto bremste plötzlich mit kreischenden Reifen, setzte dann sehr schnell zurück, bis es mit mir auf einer Höhe war. Der Landrover. Wie war das möglich?
Türen sprangen auf, Leute quollen heraus. Leute, die ich kannte.
Mackie.
Mackie rannte los und rief:»John, John«, dann war sie bei mir und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und sagte:»Großer Gott!«
Nach ihr kam Perkin, der sprachlos auf den Boden blickte und den Mund vor Schrecken offenstehen ließ. Gareth rief uns dringlich:»Was ist los?«entgegen, dann sah er es und ließ sich erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen neben mir nieder.
«Wir suchen Sie schon seit einer Ewigkeit«, sagte er.»Sie haben da einen Pfeil. «Seine Stimme erstarb.
Er sagte mir nichts Neues.
«Geh und hol Tremayne«, sagte Mackie, und er sprang sofort auf und rannte weg, die Straße entlang nach rechts, als hätte er sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen.
«Auf alle Fälle müssen wir den Pfeil herausziehen«, sagte Perkin. Er legte seine Hand an den Schaft und fing an zu ziehen. Er konnte ihn kaum bewegt haben, doch in meiner Brust fühlte es sich an wie flüssiges Feuer.
Ich schrie auf… es kam nur als mageres Krächzen hervor, doch in meinem Geiste war es ein Schrei gewesen.:»Nicht.«
Ich versuchte, von ihm wegzurutschen, aber das machte es nur noch schlimmer. Meine Hand schnellte vor und packte Mackies Hosenbein; ich zog mit einer Kraft daran, die ich mir nicht mehr zugetraut hätte. Die Macht der Verzweiflung.