«Und wie erfahre ich den?«fragte ich.
Da lehrte Petrus mich das Ritual des Boten.
«Mache es am besten abends, weil es dann einfacher ist.
Heute, bei seiner ersten Begegnung mit dir, wird er dir seinen Namen enthüllen. Dieser Name ist ein Geheimnis, und niemand darf ihn erfahren, nicht einmal ich. Wer den Namen deines Boten kennt, kann ihn zerstören.«
Petrus erhob sich, und wir machten uns wieder auf den Weg.
Es dauerte nicht lange, da waren wir an dem Feld angelangt, das die Bauern bestellten. Wir wechselten einige» Buenos dias «mit ihnen und gingen weiter.
«Wenn ich es bildlich darstellen wollte, würde ich sagen, daß der Engel deine Rüstung und der Bote dein Schwert ist. Eine Rüstung schützt jederzeit, doch ein Schwert kann inmitten der Schlacht zu Boden fallen, einen Freund töten oder sich gegen seinen Besitzer wenden. Im übrigen dient ein Schwert für fast alles, nur darauf setzen kann man sich nicht«, sagte er und fing laut an zu lachen. Wir machten zum Mittagessen in einem Dorf halt. Der junge Mann, der uns bediente, hatte sichtlich schlechte Laune. Er antwortete nicht auf unsere Fragen, knallte uns das Essen auf den Tisch, und am Ende schaffte er es sogar noch, etwas Kaffee auf Petrus' Bermudas zu schütten. Ich erlebte dann staunend, wie mein Führer sich veränderte: Wütend rief er den Wirt und beschwerte sich laut über die Ungehörigkeit des jungen Mannes. Schließlich ging er in den Waschraum, um sein zweites Paar Bermudas anzuziehen, wahrend der Wirt den Kaffeefleck auswusch und die alte Hose zum Trocknen aufhängte.
Während wir darauf warteten, daß die Mittagssonne ihre Pflicht tat und Petrus' Bermudas trocknete, dachte ich über alles nach, was wir am Vormittag geredet hatten. In der Tat machte alles, was Petrus über den Jungen gesagt hatte, Sinn. Zudem hatte ich die Vision einer Wüste und eines Gesichtes gehabt. Doch diese Geschichte vom Boten erschien mir nun doch etwas archaisch. Wir befanden uns mitten im 20. Jahrhundert, und Begriffe wie Hölle, Sünde und Dämon waren für jeden halbwegs intelligenten Menschen sinnentleert. Innerhalb der
>Tradition<, deren Lehren ich sehr viel länger gefolgt war als dem Jakobsweg, war der Bote, der hier (völlig wertfrei) Dämon genannt wurde, ein Geist, der die Kräfte der Erde beherrschte und immer auf seiten des Menschen stand. Man bedient sich seiner häufig bei magischen DAS RITUAL DES BOTEN
1. Setze dich nieder und entspanne dich vollkommen. Lasse deine Gedanken schweifen, wohin sie wollen. Nach einer Weile beginne dir selbst immer wieder zu sagen:»Ich hin jetzt ganz entspannt, und meine Augen schlafen den Schlaf der Welt.«
2. Wenn du spürst, daß dein Geist sich mit nichts mehr beschäftigt, stelle dir eine Feuersäule zu deiner Rechten vor.
Lasse die Flammen lodern und strahlen. Dann sage leise:»Ich befehle meinem Unterbewußtsein, sich zu manifestieren. Es möge sich mir öffnen und seine magischen Geheimnisse preisgeben.» Warte ein bißchen und konzentriere dich dabei nur auf die Feuersäule. Taucht irgendein Bild auf, dann ist es eine Manifestation deines Unterbewußtseins. Versuche es zu behalten.
3. Lasse die Feuersäule zu deiner Rechten weiter bestehen und fange dann an, dir eine weitere Feuersäule zu deiner Linken vorzustellen. Wenn die Flammen lodern, sage leise folgende Worte:»Möge die Kraft des Lammes, die sich in allen und in allem manifestiert, sich auch in mir manifestieren, während ich meinen Boten rufe. [Name des Boten] erscheine mir jetzt.«
4. Rede mit deinem Boten, der sich zwischen beiden Säulen zeigen wird. Besprich mit ihm ein bestimmtes Problem, bitte ihn um Rat, und gib ihm die notwendigen Anweisungen.
5. Ist euer Gespräch zu Ende, verabschiede den Boten mit folgenden Worten: «Ich danke dem Lamm für das Wunder, das ich getan habe. Möge [Name des Boten] immer wiederkehren, wenn ich ihn rufe, und wenn er fern ist, möge er mir helfen, mein Werk zu vollbringen.«
Anmerkung: Bei der ersten Anrufung beziehungsweise den ersten Anrufungen — und das richtet sich nach der Konzentrationsfähigkeit dessen, der das Ritual vollführt — soll der Name des Boten nicht genannt werden. Sage nur» er«.
Wird das Ritual richtig durchgeführt, sollte der Bote seinen Namen sofort durch Telepathie enthüllen. Falls dies nicht geschieht, gib nicht auf, bis du seinen Namen erfährst. Erst dann beginnt das Gespräch. Je häufiger das Ritual wiederholt wird, desto stärker wird die Anwesenheit des Boten sein, und desto schneller wird er handeln. Handlungen, doch nie als eines Verbündeten oder Ratgebers in Alltagsdingen.
Petrus hatte mir zu verstehen gegeben, daß ich die Freundschaft des Boten benutzen könnte, um in meiner Arbeit und in der Welt voranzukommen. Ganz abgesehen davon, daß diese Vorstellung profan war, erschien sie mir zudem noch kindlich.
Doch ich hatte bei Madame Savin vollkommenen Gehorsam geschworen. Und wieder einmal mußte ich den Fingernagel in den Daumen graben, der inzwischen eine offene Wunde war.
«Ich hätte mich nicht aufregen dürfen«, sagte Petrus, kaum daß wir hinausgegangen waren.»Schließlich hatte er den Kaffee nicht auf mich, sondern auf die Welt gekippt, die er haßt. Er weiß, daß es jenseits der Grenzen seiner Vorstellung eine riesige Welt gibt, und seine Teilhabe an dieser Welt besteht darin, daß er früh aufsteht, zum Bäcker geht, den bedient, der gerade kommt, und nachts onaniert und dabei von Frauen träumt, die er nie kennenlernen wird.«
Es war Zeit, für eine Siesta haltzumachen, doch Petrus beschloß weiterzugehen. Er meinte, dies sei eine Art Buße für seine Intoleranz. Ich, der nichts getan hatte, mußte ihn unter der sengenden Sonne begleiten. Ich dachte an den guten Kampf und an die Millionen Menschen, die in diesem Augenblick überall auf dem Planeten Dinge taten, die ihnen nicht gefielen. Die Übung des Schmerzes tat mir, obwohl mein Finger inzwischen eine einzige Wunde war, sehr gut. Sie hatte mich begreifen lassen, wie verräterisch mein Geist sein konnte, der mich dazu brachte, Dinge zu tun, die ich nicht mochte, und Gefühle zu haben, die mir nicht halfen.
Und in diesem Augenblick wünschte ich mir, daß Petrus recht haben möge und es wirklich einen Boten gab, mit dem ich über ganz praktische Dinge reden und den ich bei Angelegenheiten, die mein weltliches Leben betrafen, um Hilfe bitten konnte.
Ungeduldig erwartete ich den Abend.
Petrus hingegen hörte nicht auf, über den jungen Mann zu reden. Am Ende war er jedoch davon überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte, und führte dafür wieder einmal ein christliches Argument ins Feld.
«Christus vergab der Ehebrecherin, doch er verfluchte den Feigenbaum, der keine Feigen geben wollte. Ich kann auch nicht immer nett sein.«
Schluß, aus. Für ihn war die Sache erledigt. Wieder einmal hatte ihn die Bibel gerettet.
Wir kamen erst gegen neun in Estella an. Ich nahm ein Bad, und anschließend gingen wir hinunter zum Abendessen. Der Autor des ersten Führers der Rota Jacobea, Aymeric Picaud, hatte Estella als einen» fruchtbaren Ort mit gutem Brot, vorzüglichem Wein, Fleisch und Fisch «beschrieben.»Sein Rio Ega führt süßes, gesundes und sehr gutes Wasser. «Das Wasser habe ich zwar nicht getrunken, doch was die Speisen betraf, so hatte Picaud auch heute, nach acht Jahrhunderten, noch recht. Uns wurden eine im Ofen gebackene Lammschulter, Artischockenherzen und ein ausgezeichneter Riojawein serviert. Wir saßen lange bei Tisch, unterhielten uns über Belangloses und genossen den Wein. Schließlich sagte Petrus, für mich sei jetzt der rechte Augenblick gekommen, ein erstes Mal in Kontakt mit dem Boten zu treten.
Wir standen vom Tisch auf und begannen durch die Straßen der Stadt zu gehen. Einige Gassen führten geradewegs zum Fluß, und am Ende einer dieser Gassen beschloß ich, mich niederzusetzen. Petrus wußte, daß ich von nun an das Ritual allein vollziehen würde, und blieb etwas zurück.