Ich schaute lange auf den Fluß. Sein Fließen und Rauschen begannen, mich von der Welt zu lösen, und flößten mir eine tiefe Ruhe ein. Ich schloß die Augen und stellte mir die erste Feuersäule vor. Zunächst war es etwas schwierig, doch dann erschien sie.
Ich sprach die rituellen Worte, und eine weitere Säule erschien zu meiner Linken. Der vom Feuer erleuchtete Raum zwischen beiden Säulen war leer. Ich starrte eine geraume Weile auf diesen Raum, versuchte, an nichts zu denken, damit sich der Bote manifestierte. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, es tauchten exotische Szenarien auf: der Eingang einer Pyramide, eine in pures Gold gekleidete Frau, einige schwarzhäutige Männer, die um ein Feuer tanzten. Die Bilder wechselten schnell, und ich ließ sie einfach fließen. Es erschienen auch viele Abschnitte des Jakobsweges, die ich mit Petrus zurückgelegt hatte. Landschaften, Restaurants, Wälder.
Bis sich unvermittelt die graue Wüste, die ich bereits am Morgen gesehen hatte, zwischen den beiden Feuersäulen erstreckte. Und dort stand der sympathische Mann und blickte mich mit einem verräterischen Blitzen in den Augen an.
Er lächelte, und ich lächelte in meiner Trance zurück. Er zeigte mir eine geschlossene Tasche, öffnete sie dann und sah hinein.
Doch von da, wo ich saß, konnte ich nichts sehen. Dann fiel mir ein Name ein: Astrain. Ich prägte mir diesen Namen ein und ließ ihn zwischen den beiden Feuersäulen vibrieren, und der Bote nickte mit dem Kopf. Ich hatte herausgefunden, wie er hieß.
Der Augenblick war gekommen, das Ritual zu beenden. Ich sprach die rituellen Worte und löschte die Feuersäulen, erst die linke, dann die rechte. Ich öffnete die Augen, und vor mir lag der Rio Ega.
«Es war sehr viel einfacher, als ich mir vorgestellt hatte«, sagte ich zu Petrus, und dann erzählte ich ihm alles, was ich zwischen den Säulen gesehen hatte.
«Dies war deine erste Begegnung. Eine Begegnung des gegenseitigen Erkennens und gegenseitiger Freundschaft. Das Gespräch mit dem Boten wird fruchtbar sein, wenn du ihn täglich rufst und deine Probleme mit ihm besprichst und immer genau zu unterscheiden weißt zwischen dem, was eine wirkliche Hilfe, und dem, was eine Falle ist. Halte immer dein Schwert gezückt, wenn du ihn triffst.«
«Aber ich habe mein Schwert doch noch gar nicht«, wandte ich ein.
«Daher kann er dir nicht viel Böses antun. Dennoch solltest du auf der Hut sein. «Das Ritual war zu Ende, ich verabschiedete mich von Petrus und ging zum Hotel zurück. Als ich im Bett lag, dachte ich an den armen Kerl, der uns das Mittagessen serviert hatte. Ich wäre am liebsten wieder zurückgegangen und hätte ihm das Ritual des Boten beigebracht und ihm gesagt, daß er alles ändern könne, wenn er nur wolle. Doch es war nutzlos zu versuchen, die ganze Welt zu retten. Hatte ich doch noch nicht einmal geschafft, mich selbst zu retten.
Die Liebe
Wer mit dem Boten spricht, sollte nicht nach Dingen fragen, die die Welt der Geister betreffen«, sagte Petrus am nächsten Tage.»Der Bote dient nur einem: dir in der materiellen Welt zu helfen. Er wird dir nur helfen, wenn du genau weißt, was du willst.«
Wir hatten in einer kleinen Ortschaft haltgemacht, und Petrus hatte ein Bier und ich ein Soda bestellt. Der Untersatz meines Glases war eine Plastikscheibe, die mit farbigem Wasser gefüllt war. Meine Finger malten abstrakte Figuren in das Wasser, und mir gingen viele Dinge durch den Kopf.
«Du hast gesagt, daß der Bote sich in dem Jungen manifestiert habe, weil er mir etwas zu sagen hatte.«
«Etwas Dringendes«, bestätigte er.
Wir sprachen weiter über Boten, Engel und Dämonen. Es fiel mir schwer, eine so praktische Verwendung der Mysterien der
>Tradition< zu akzeptieren. Petrus bestand darauf, daß wir immer eine Belohnung suchen müssen, und ich erinnerte ihn daran, daß Jesus gesagt hatte, daß der Reiche nicht ins Himmelreich komme.
«Jesus hat auch den Mann belohnt, der die Talente seines Herrn zu mehren wußte. Außerdem haben die Menschen nicht nur an ihn geglaubt, weil er so gut reden konnte. Er mußte Wunder tun, um die zu belohnen, die ihm folgten.«
«In meiner Bar spricht niemand schlecht über Christus«, unterbrach uns der Wirt, der unserer Unterhaltung gefolgt war.
«Niemand spricht hier schlecht über Jesus«, entgegnete Petrus.»Schlecht über Jesus reden ist, wenn man in seinem Namen Böses tut. So wie es auf diesem Platz geschehen ist.«
Der Wirt schwankte einen Augenblick lang. Doch dann entgegnete er:
«Ich hatte damit nichts zu tun. Ich war noch ein Kind.«
«Schuld haben immer die anderen«, knurrte Petrus. Der Wirt ging zur Küchentür hinaus. Ich fragte, worüber sie gerade geredet hätten.
«Vor fünfzig Jahren, mitten im 20. Jahrhundert, wurde ein Zigeuner dort gegenüber verbrannt. Er war der Hexerei und der Verunglimpfung der heiligen Hostie beschuldigt worden. Der Fall wurde über den Greueln des spanischen Bürgerkrieges vergessen, und heute erinnert sich keiner mehr daran. Außer den Einwohnern dieser Stadt.«
«Woher weißt du das, Petrus?«
«Ich gehe den Jakobsweg nicht zum ersten Mal.«
Wir waren die einzigen, die in der Bar etwas tranken. Draußen brannte die Sonne. Es war unsere Siesta-Zeit. Kurz darauf kam der Wirt mit dem Dorfpfarrer zurück.
«Wer sind diese Herren?«fragte der Pfarrer.
Petrus wies auf die Jakobsmuschel auf seinem Rucksack.
Tausend Jahre hindurch waren Pilger auf dem Weg vor dieser Bar vorbeigezogen, und die Tradition wollte, daß jeder Pilger geehrt und aufgenommen wurde. Der Pfarrer wechselte sofort seinen Ton.
«Wie ist es möglich, daß Pilger auf dem Jakobsweg schlecht über Jesus reden?«fragte er, und sein Tonfall klang so wie beim Katechismusunterricht.
«Niemand spricht hier schlecht über Jesus. Wenn wir uns über etwas negativ geäußert haben, dann war es über die im Namen Jesu verübten Verbrechen. Wie zum Beispiel die Verbrennung des Zigeuners hier auf dem Platz.«
Die Jakobsmuschel auf Petrus' Rucksack hatte auch den Wirt seinen Ton ändern lassen. Diesmal wandte er sich respektvoll an ihn.
«Der Fluch des Zigeuners wirkt heute noch«, sagte er, während ihn der Pfarrer tadelnd ansah.
Petrus wollte wissen, wie. Der Pfarrer sagte, das seien Geschichten, die sich das Volk erzähle. Die Kirche unterstütze dies keineswegs. Doch der Wirt fuhr fort:»Bevor er starb, sagte der Zigeuner, daß das jüngste Kind des Dorfes seine Dämonen empfangen und von ihnen besessen sein werde. Wenn dieses Kind alt werde und sterbe, würden die Dämonen auf ein anderes Kind übergehen. Und dies über die Jahrhunderte.«
«Das Land hier ist genauso wie das der umliegenden Dörfer.
Wenn sie unter der Dürre leiden, tun wir es auch. Wenn es dort regnet und die Ernte gut ist, füllen auch wir unsere Kornspeicher. Hier geschieht nichts, was nicht auch in den anderen Dörfern geschieht. Diese Geschichte ist pure Erfindung.«
«Nichts ist geschehen, weil wir den Fluch aus unserem Dorf verbannt haben.«
«Nun, dann gehen wir doch zu ihm hin«, entgegnete Petrus.
Der Pfarrer lachte und sagte, das sei ein Wort. Der Wirt schlug das Kreuz. Doch niemand rührte sich.
Petrus zahlte die Zeche und bestand darauf, daß jemand uns zu der Person führte, die mit dem Fluch belegt war. Der Pater entschuldigte sich damit, daß er in die Kirche zurück müsse, wo noch Arbeit auf ihn wartete. Und er ging, bevor wir anderen etwas sagen konnten.
Der Wirt sah Petrus ängstlich an.
«Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte mein Führer.»Sie brauchen uns nur das Haus zu zeigen, in dem er lebt. Und wir werden versuchen, die Stadt vom Fluch zu befreien.«
Der Wirt trat mit uns auf die staubige Straße in die heiße Mittagssonne. Wir gingen zusammen bis zum Ortsausgang, und er wies auf ein in einiger Entfernung am Jakobsweg gelegenes Haus.